Eine Geschichte der verpassten Gelegenheiten: Marco Reus und sein letzter Versuch
Gemessen an seinem Talent hat Marco Reus in der Nationalelf nie eine prägende Rolle eingenommen – nun unternimmt er einen neuen Anlauf, das doch noch zu ändern.
Joshua Kimmich stand die Verwirrung ins Gesicht geschrieben. Wobei nicht ganz klar war, was ihn mehr irritierte. Die Tatsache, dass er im WM-Qualifikationsspiel gegen Liechtenstein ausgewechselt wurde. Oder die Frage, wem er nun die Kapitänsbinde überreichen sollte.
Die Binde landete schließlich, den ungeschriebenen Gesetzen bei der deutschen Fußball-Nationalmannschaft folgend, bei Marco Reus. Der Dortmunder war nach Kimmichs Auswechslung nicht nur der älteste Spieler auf dem Feld, er war auch der mit den meisten Länderspieleinsätzen. Was wiederum vor allem daran lag, dass einige erfahrene Kräfte fehlten oder bereits ausgewechselt waren.
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Der Einsatz beim 2:0-Sieg gegen Liechtenstein war erst der 45. für Marco Reus in der Nationalmannschaft. Ende Mai, kurz vor der Europameisterschaft, ist er 32 geworden, und unter normalen Umständen hätte er seinen Geburtstag wohl im Kreis der Nationalmannschaft gefeiert. Aber Reus gehörte auf eigenen Wunsch nicht dem EM-Kader an. Nach all den Blessuren in den vergangenen Jahren hatte er sich entschlossen, „für meinen Körper eine Pause einzulegen“.
Manche hatten vermutet, dass aus der Pause ein endgültiger Rückzug werden würde. Reus selbst aber hat daran nach eigener Aussage „nicht einen Gedanken“ verschwendet. Jetzt, bei der ersten Länderspielreihe unter dem neuen Bundestrainer Hansi Flick, ist der Kapitän von Borussia Dortmund tatsächlich wieder dabei.
Nach all den etwas verqueren Ideen seines Vorgängers Joachim Löw steht Flick für eine völlig unideologische Herangehensweise an seinen Job. Und das gilt nicht zuletzt für seine Nominierungspraxis. Der neue Bundestrainer ist ein Verfechter der eher traditionellen Sicht, dass in der Nationalmannschaft die besten Spieler spielen sollten, und Reus hält er für einen „der Besten im letzten Drittel“.
Reus ist einer der Besten im letzten Drittel
Seit mehr als einem Jahrzehnt zählt Marco Reus zu den herausragenden Offensivspielern der Bundesliga. In 314 Einsätzen für Borussia Mönchengladbach und Borussia Dortmund kommt er auf 136 Tore, weitere 89 bereitete er vor. Am ersten Spieltag der laufenden Saison erzielte Reus als fünfter Spieler in der Geschichte des BVB sein 100. Tor für den Klub. Marco Reus ist in seinen besten Momenten jemand, der Entschlossenheit und Leichtfüßigkeit miteinander vereint – also genau das hat, was der Nationalmannschaft zuletzt ein wenig abgegangen ist.
Das heißt trotzdem nicht zwingend, dass der Dortmunder an diesem Sonntag in Stuttgart gegen Armenien (20.45 Uhr, live bei RTL), den Tabellenführer der deutschen WM-Qualifikationsgruppe, von Anfang an spielen wird. Gegen Liechtenstein, bei Flicks Debüt, saß Reus zunächst auf der Bank. „Wir werden ein bisschen was ändern, aber nicht allzu viel“, kündigte der Bundestrainer an. Torhüter Manuel Neuer ist wieder verfügbar, Robin Gosens hingegen fällt aus, und der Einsatz des leicht vergrippten Kai Havertz ist noch fraglich.
Unabhängig davon, ob er in der Startelf stehen oder auf der Bank sitzen wird: Marco Reus kehrt an diesem Sonntag dahin zurück, wo alles angefangen hat. Im August 2011, vor ziemlich genau zehn Jahren also, gehörte er für das Spiel gegen den Rekordweltmeister Brasilien erstmals dem Kader der Nationalmannschaft an. Und dieses Spiel in Stuttgart darf man getrost als die Geburtsstunde der Weltmeistermannschaft von 2014 bezeichnen.
Reus und die verpassten Gelegenheiten im Nationalteam
Die Deutschen spielten damals brasilianischer als die Brasilianer selbst. 3:2 siegten sie, und Mario Götze und André Schürrle, drei Jahre später nicht unwesentlich am Gewinn des WM-Titels beteiligt, erzielten je ein Tor. Marco Reus und der ebenfalls erstmals nominierte Ilkay Gündogan blieben an jenem Abend in Stuttgart hingegen 90 Minuten auf der Bank.
Die Geschichte von Reus und der Nationalmannschaft ist eben vor allem eine Geschichte der verpassten Gelegenheiten (so ähnlich wie die von Gündogan und der Nationalmannschaft): Bei der EM 2012 kam er – obwohl Deutschlands Fußballer des Jahres – erst im Viertelfinale zum Einsatz: Reus machte ein starkes Spiel, erzielte ein Tor – und saß im Halbfinale wieder auf der Bank. 2014 verletzte er sich im letzten Testspiel vor dem Abflug nach Brasilien; 2016 erwischte es ihn im Pokalfinale, so dass er auch die EM verpasste, und 2018, als Reus es nach einer langwierigen Verletzung gerade noch in den WM-Kader geschafft hatte, hielt Bundestrainer Löw ihn ganz bewusst für die kniffligen Spiele in der K.-o.-Runde zurück.
Dummerweise schafften es die Deutschen dann gar nicht erst in die K.-o.-Runde.
Bei einer solchen Vorgeschichte ist es nicht verwunderlich, dass Reus inzwischen von latenten Vorbehalten begleitet wird: Nicht verlässlich, im Zweifel doch wieder verletzt, heißt es über ihn. „Ich fühle mich eigentlich gut“, sagt er vor seinem x-ten Neubeginn in der Nationalmannschaft, der vermutlich auch der letzte Versuch ist, noch einmal richtig wichtig zu werden. „Ich habe in der Vorbereitung keine einzige Trainingseinheit verpasst. Das gab’s auch schon sehr, sehr lange nicht mehr bei mir.“