Nationalmannschaft bei der WM 2018: Marco Reus hat das gewisse Extra
Schon vor acht Jahren wurde Marco Reus erstmals für die Nationalelf nominiert - doch erst bei der WM in Russland kann er eine wichtige Rolle spielen.
Marco Reus hüpfte vorwärts, er lief rückwärts, er trippelte zur Seite. Marco Reus flitzte im sechs gegen zwei von einer Ecke zur anderen und wieder zurück. Mehr war nicht von ihm zu sehen – weil dann die Viertelstunde vorüber war, in der die Journalisten der deutschen Nationalmannschaft beim Training zusehen dürfen. Marco Reus blieb in dieser Viertelstunde unverletzt. Jetzt, da es nur noch wenige Stunden sind bis zum WM-Auftakt der Deutschen, ist eine solche Meldung fast schon eine Breaking News. Reus, der Offensivspieler von Borussia Dortmund, hat sich in der Vergangenheit schließlich mit beängstigendem Timing immer genau zum falschen Zeitpunkt verletzt. Diesmal hat er die Vorbereitung in Südtirol unbeschadet überstanden, die beiden Testspiele ebenso und auch die Trainingseinheiten in Watutinki. „Wenn ich mich so wie jetzt fühle, ist alles in Ordnung“, sagt Marco Reus, der im Alter von 29 Jahren an diesem Sonntag gegen Mexiko sein erstes WM-Spiel bestreiten könnte.
Löw: "Reus ist eine Rakete"
Dabei ist Reus alles andere als ein Spätberufener. Im Mai 2010 – kurz vor seinem 21. Geburtstag – wurde er erstmals von Joachim Löw nominiert. Weil kurz vor der WM in Südafrika viele Stammspieler noch mit ihren Vereinsteams beschäftigt waren, bot der Bundestrainer gegen Malta eine A2-Nationalmannschaft auf. Ein gewisser Mats Hummels feierte damals sein Debüt, dem bis heute weitere 63 Einsätze in der Nationalmannschaft folgten. Marco Reus hat es im selben Zeitraum auf gerade mal 31 Länderspiele gebracht.
An seiner Qualität liegt das sicher nicht, eher an seinem Körper. Vom Erstkontakt mit dem Bundestrainer bis zum Länderspieldebüt im Oktober 2011 dauerte es 17 Monate. Dazwischen war Reus viermal nominiert worden, viermal musste er kurzfristig absagen. Vielleicht musste er auch deshalb bei Joachim Löw lange um die gebührende Anerkennung kämpfen, inzwischen aber schwärmt der Bundestrainer regelrecht von Reus Er sei ein Spieler, „der wahnsinnig geschickt, intelligent, überraschend für den Gegner spielt. Er hat ein unglaubliches Können in seinen Aktionen. Alles wirkt so leicht und so spielerisch.“ Torabschluss, Schnelligkeit, Instinkt, Gefühl für Räume, eine hohe Spielintelligenz – all das zeichne ihn aus. „Er ist schon in manchen Situationen, wenn man das im Training beobachtet, eine Rakete.“
Deutscher Fußballer des Jahres 2012 und EM-Tor
Im Moment hat man manchmal den Eindruck, als stehe Reus gerade vor seinem ersten großen Turnier überhaupt. Dabei war er schon bei der EM 2012 dabei. Reus hatte eine grandiose Saison mit Borussia Mönchengladbach hinter sich, wurde im selben Sommer sogar zu Deutschlands Fußballer des Jahres gewählt. Doch Löw wartete bis zum Viertelfinale gegen Griechenland, bis er Reus spielen ließ. Er erzielte ein Tor – und saß im Halbfinale wieder auf der Bank.
In Russland könnte Reus nun das Überraschungsmoment im deutschen Spiel werden, das gewisse Extra, das bei einem solchen Turnier für den ganz großen Erfolg vermutlich unerlässlich ist. Ob das schon im Auftaktspiel der Fall sein wird, ist nicht zwingend gesagt. Für die beiden Positionen links und zentral in der offensiven Dreierreihe gibt es drei Kandidaten: Julian Draxler, Mesut Özil und eben Reus. Draxler wird laut Löw von Anfang an spielen, auch Özil ist wieder fit und einsatzfähig. Gut möglich, dass Löw Reus erst einmal noch als zusätzliche Option in der Hinterhand behält. „Grundsätzlich ist mein Anspruch, dass ich der Mannschaft auf dem Platz helfe“, sagt der Dortmunder. „Ich will mich so anbieten, dass ich vor allem in den entscheidenden Spielen dabei bin.“
Leidensgeschichte hat Reus lockerer gemacht
Reus‘ Qualitäten sind unbestritten. Dem ganz großen Publikum aber ist er bisher weitgehend vorenthalten worden. Sowohl die WM 2014 als auch die EM 2016 hat er wegen schwerer Verletzungen verpasst. Dass er ein Anrecht auf Wiedergutmachung hat, findet Reus trotzdem nicht. „Ich denke nicht, weil ich wegen meiner Verletzung die WM 2014 verpasst habe, bekomme ich jetzt alles doppelt zurück“, sagt er. „Wenn’s 2014 Schicksal war, dann war’s so.“
Am Abend vor dem Abflug nach Salvador de Bahia erwischte ihn ein armenischer Gegenspieler am Sprunggelenk und zerfetzte ihm das Syndesmoseband. Fünf Wochen später wurden seine Teamkollegen Weltmeister. Auf den Siegerfotos aus Rio ist auch Marco Reus vertreten. Mario Götze hält sein Trikot in die Kameras. „Was soll man da denken? Ehrlich gesagt, denkst du als Fußballer: Scheiße!“, sagt Reus. „Weil ich gerne dabei gewesen wäre – vor allem, wenn du das Endergebnis siehst.“
Zwei Jahre später stand Reus im Kader für die EM in Frankreich – und musste wegen Schambeinbeschwerden doch wieder passen. Es folgten: eine monatelange Pause, das Comeback, ein Kreuzbandriss im DFB-Pokalfinale vor einem Jahr. Seit Februar spielt Marco Reus wieder, für den BVB erzielte er in elf Bundesligaspielen sieben Tore. „Nach der letzten Verletzung hatte ich viel Zeit, über mein Leben nachzudenken“, erzählt Reus. Ernsthafter sei er nicht geworden, „eher noch ein bisschen lockerer“, findet er. „Aber wenn es ernst wird, weiß ich das schon richtig einzuschätzen.“