Schach: Magnus Carlsen: "Ich genieße es, wenn mein Gegner leidet"
Magnus Carlsen übt nur, wenn er Lust hat. Sonst treibt er viel Sport, ließt Comics oder schaut TV-Serien. Nicht die Obsession treibt den begnadeten Schachspieler an, sondern das Spaß-haben-Wollen. Ein Porträt.
Vielleicht muss man selbst von ihnen heimgesucht worden sein. Von lebensgroßen Läufern, riesigen Türmen und Springern, die wild umhertanzen, Grimassen ziehen und höhnisch lachen. Von Traumbildern, in denen immer derselbe Zug erfolgt, dieselbe Figur auf immer dasselbe Feld gesetzt wird. Aber falsch ist dieser Zug – im Nachhinein so klar falsch, dass sich Zweifel ausbreiten über die Fähigkeiten des eigenen Verstandes. Die Zweifel nagen, quälen, peinigen, zerfressen einen. Wenn der Körper versagt, ist das nicht schön, aber der Geist? Dann das Erwachen, der Schweiß im Nacken und auf der Brust. Die Wut auf sich selbst, die Niedergeschlagenheit.
Jeder Schachspieler hat das schon erlebt. In der „Schachnovelle“ von Stefan Zweig läuft der inhaftierte Dr. B. in seinem Zimmer auf und ab und spielt in Gedanken, um nicht wahnsinnig zu werden, Schach gegen sich selbst. Seine Person spaltet er in ein „Ich Weiß“ und ein „Ich Schwarz“. Wahnsinnig wird er trotzdem. Jede Partie, die er gewinnt, verliert er auch. Jeder Triumph bedeutet gleichzeitig eine Schmach.
Magnus Carlsen schläft wie ein Kleinkind, tief, fest und lange. Manchmal elf Stunden. Ihm tun die Spieler leid, sagt er, die nachts wach liegen und über ihre Partien grübeln. Carlsen ist eher undiszipliniert. Er übt nur, wenn er Lust hat. Wenn er keine Lust hat, spielt er Basketball, Fußball, Tennis, Tischtennis, Beachvolleyball. Oder er liest Comics. Oder er schaut TV-Serien an. Oder er chattet. Oder er spielt online Poker. Außerdem läuft, klettert und schwimmt er gern. Durchtrainiert ist er, konditionsstark und muskulös. Nicht die Obsession treibt ihn an, sondern das Spaß-haben-Wollen. Das sagt der 22-jährige Norweger immer wieder. Schachspielen macht ihm Spaß. So einfach ist das.
Ist es das wirklich? „Ich genieße es, wenn ich sehe, dass mein Gegner leidet, wenn er weiß, dass ich gewinnen werde“, sagt Carlsen, und: „Wenn ich auch nur ein Spiel verliere, ist es wie Krieg, ich will einfach nur Rache.“ Das ist eine eigentümliche Form von Spaß. Und sie erinnert an die Exzentriker dieses Spiels, an Bobby Fischer zum Beispiel, die Inkarnation des genial-sadistischen Ego- und Monomanen. „Ich sehe gern, wie sie sich winden“, hatte der in jungen Jahren gesagt, und später: „Ich zerbreche das Ich des anderen.“
Nun steht Carlsen kurz davor, Schachweltmeister zu werden. Im Duell der Superhirne gegen den langjährigen Titelträger, den Inder Viswanathan Anand, führt er nach einem weiteren Remis am Dienstag mit fünf zu drei Punkten. Der Wettkampf, ausgetragen in Anands feuchtschwüler Heimatstadt Chennai, ist auf zwölf Begegnungen angesetzt, mit klassischer Bedenkzeit – 2 Stunden pro Spieler für die ersten 40 Züge, 60 Minuten für die nächsten 20 Züge, 15 Minuten für den Rest der Partie zuzüglich 30 Sekunden für jeden Zug. Mit jedem Zug wird das Denken komplexer und die Zeit erdrückender. Dass Anand, der „Tiger von Madras“, den Rückstand aufholt, gilt als unwahrscheinlich. Denn wie schafft man das Wunder gegen ein Wunderkind?
Früher wurden Spieler allenfalls als Exoten berühmt
Er sei ein „Mozart des Schachs“ hieß es bereits vor neun Jahren über Carlsen. Das war nach einer brillant gewonnenen Partie gegen den Großmeister Sipke Ernst, durch die sich der junge Norweger plötzlich ins Rampenlicht der globalen Schachwelt katapultierte. Er war damals 13 und ebenso alt wie Bobby Fischer 1956, als der ähnlich spektakulär Robert Byrne besiegte. Auch über Fischer hieß es damals, er sei ein Mozart.
Gemeint sind damit Leichtigkeit, Intuition, Harmonie, Virtuosität. Ein Teil dieser Gaben wurde Carlsen in die Wiege gelegt. Mit zwei Jahren konnte er 50-Teile-Puzzle zusammenfügen, mit zweieinhalb Jahren alle gängigen Automarken aufsagen, mit fünf lernte er alle Länder der Welt mit ihren Hauptstädten und Einwohnerzahlen auswendig. Alles, was ihn interessierte, speicherte er ab. Mit acht Jahren brachte sein Vater ihm Schach bei. Weil Magnus unbedingt seine große Schwester schlagen wollte, fing er zu üben an, las Schachbücher. Entdeckt wurde der Junge wenig später vom norwegischen Großmeister Simen Agdestein. „Seine Begabung ist gewaltig“, sagte der über das scheue Talent mit dem fotografischen Gedächtnis, den leicht abstehenden Ohren, den vollen Lippen, dem etwas gelangweilten Blick.
Längst ist Mozart als Beschreibung zu eng geworden. Bei seinen Fotoshootings für eine niederländische Modemarke stehe Carlsen wie David Beckham vor der Kamera, heißt es, sein Lächeln erinnere an Matt Damon, die britische „Cosmopolitan“ nannte ihn einen „hottie“ und stellte ihn in die Reihe der „Sexiest Men of 2013“, das „Time“-Magazin zählt ihn zu den hundert einflussreichsten Personen weltweit. Früher wurden Schachspieler allenfalls als Exoten berühmt, die etwa zur Beruhigung ihrer strapazierten Nerven Damenschuhe halbkreisförmig im Zimmer aufstellten. Die Welt scheint in Carlsen etwas anderes zu sehen. Obwohl er kaum Interviews gibt. Alles, was man von ihm weiß, hat er zuletzt einer Handvoll Journalisten verraten. „Ich habe das Schachspiel immer vor Augen, ich denke die ganze Zeit über Züge nach, auch wenn ich mit Menschen rede“, sagt er. Also doch ein Besessener?
Carlsen weiß, wie gefährdet Schachspieler sind. Das Spiel kann die Herrschaft über Gehirne erlangen. Von Reuben Fine, einem führenden Psychoanalytiker und zugleich einem der großen Schachspieler seiner Zeit, erschien vor etwa 50 Jahren das Buch „The Psychology of the Chess Player“. Ausführlich beschreibt Fine darin die Persönlichkeitsmerkmale der Exzentriker unter den Weltmeistern. Aggressiv, narzisstisch, paranoid, exhibitionistisch sind sie gewesen. Paul Morphy (1837–1884) hatte Vergiftungs- und Verfolgungsängste und war der mit dem Damenschuh-Tick. Wilhelm Steinitz (1836–1900) glaubte, drahtlos telefonieren und elektrische Ströme aussenden zu können. Alexander Aljechin (1892–1946) war Antisemit, Frauenhasser, Alkoholiker, Sadist. Bobby Fischer (1943–2008) war paranoid, Antisemit und ständig auf der Flucht. Am 11. September 2001, dem Tag der Terroranschläge auf das World Trade Center, rief der Amerikaner bei einer philippinischen Radiostation an und frohlockte: „Das ist wunderbar. Amerika muss ein für allemal vernichtet werden.“ Zeigte sich auch in dieser Episode der Killerinstinkt, auf steter Suche nach einem Opfer?
Doch da gibt es auch die anderen, die psychisch absolut Unauffälligen, die Philosophen, Mathematiker, Ingenieure und Familienväter. Sie suchen keine Gegner, sondern interessieren sich für das Spiel, seine Feinheiten und Geheimnisse. Nicht Feindschaftsgefühle und Aggressionen motivieren sie, sondern Strategie und Taktik, die Problemlösung, das Zusammenwirken der einzelnen Figuren. Es sind Künstler, die auf dem Brett ein Gedankenwerk schaffen wollen, das als solches bewundert wird.
Zu dieser großen Gruppe der dem Schach Verfallenen gehören zweifellos beide, Carlsen und Anand. In ihren Heimatländern gelten sie als Helden. Anand, den Fremde und Freunde „Vishy“ nennen, ist 43 Jahre alt, Brahmane, verheiratet – und seit 2007 Weltmeister. Er lacht gern, ist bescheiden, redet schnell und hat sich drei Monate lang in einer Eigentumswohnung im Ziegelei-Viertel im hessischen Bad Soden auf seine vierte Titelverteidigung vorbereitet. Er schwamm, joggte, studierte die Partien seines Gegners, gegen den er bislang öfter gewonnen als verloren hatte. Anand habe das Schach wieder nach Hause gebracht, sagt man über ihn in Indien. Schon oft wurde er zum Sportler des Jahres gewählt. Im Osten des Landes soll im 6. Jahrhundert eine Vorform des Spiels entstanden sein.
Weil er jung und fit ist, dreht er auf, wenn sein Gegner ermüdet
Mindestens ebenso schachbegeistert wie seit Anand die 1,2 Milliarden Inder sind seit Carlsen die fünf Millionen Norweger. Magnus überall. Jede seiner Weltmeisterschaftspartien wird live im Fernsehen übertragen, die Quoten sind sensationell, das ganze Volk fiebert mit. Die fünfte und sechste Partie gewann er. Zwei Partien in Folge hatte der Inder als Weltmeister noch nie zuvor verloren. „Ein Fehler nach dem anderen, und dann fliegt alles auseinander“, bilanzierte der fassungslos. Ob er das verkraften kann, weiß keiner. Vor dem Kampf hatte er gesagt: „Wenn du verlierst, meinst du, du selbst wirst auseinandergerissen, nicht nur deine Figuren.“ Es hat auch damit zu tun, dass sich die beiden Männer jetzt immer wieder begegnen. „Du bist so auf ihn fokussiert“, sagt Anand, „dass du die Attacken viel persönlicher nimmst.“
Carlsen dagegen ist im Laufe des Turniers noch cooler und selbstbewusster geworden. Seine Strategie scheint aufzugehen. Weil er wesentlich jünger und körperlich fitter ist als Anand, kann er sich länger und besser konzentrieren. Je länger sich eine Partie hinzieht, desto größer ist sein Vorteil. Von Eröffnungsstudien hielt er nie viel. „Alle haben die gleichen Computerprogramme und Zugang zu den gleichen Informationen“, sagt er abfällig. Seine Stunde schlägt, wenn ein Mittel- in ein Endspiel übergeht und die Partie nach einem Unentschieden aussieht. Plötzlich wird Carlsen hellwach und stellt subtile Fallen auf. Er verkompliziert die Lage, raubt seinem Gegner den Erfahrungsvorsprung. Setzt ihn unter Zeitdruck, indem er ihn vor immer komplexere Aufgaben stellt.
Carlsen sei nicht wie ein Tiger, der sein Opfer mit ein paar kräftigen Schlägen erlegt, sondern wie eine Boa constrictor, die es erwürgt, sagte dessen ehemaliger Lehrmeister Garri Kasparow. Der englische Großmeister Jonathan Speelman hat für diese Methode den Begriff „Carlsen effect“ geprägt. „Er treibt seine Gegner in Fehler hinein. Er spielt und spielt, immer weiter, ruhig, abgebrüht und – vielleicht am wichtigsten – ohne Angst. Das macht aus ihm ein Monster und lässt viele seiner Gegner einfach schlappmachen.“
Jugend gegen Erfahrung, Virtuosität gegen Weisheit – und zuletzt die neue Technik. In einem „Spiegel“-Gespräch hat Carlsen das vor drei Jahren so beschrieben: „Mein Erfolg hat hauptsächlich damit zu tun, dass ich die Möglichkeit hatte, schneller mehr zu lernen. Es ist leichter geworden, an Informationen zu gelangen. Die Spieler aus der Sowjetunion hatten früher einen enormen Vorteil, ihnen stand in Moskau ein riesiges Archiv zur Verfügung, da waren unzählige Partien sorgfältig auf Karteikarten notiert. Heute kann sich jeder diese Daten für 150 Euro auf DVD kaufen, auf einer Scheibe sind 4,5 Millionen Partien gespeichert.“ Allerdings nutzt der Norweger den Computer nur zur Analyse, nie als Gegner.
Carlsen verdient im Jahr, vor allem durch Werbeverträge, rund eine Million Euro. Regelmäßig eingehende Angebote von schachvernarrten Wohlhabenden, für Zehntausende Euro eine Partie gegen sie zu spielen, lehnt er ab. Der Preisfonds bei der Weltmeisterschaft in Chennai beläuft sich auf knapp 2 Millionen Euro, geteilt wird er im Verhältnis 60 (Sieger) zu 40 (Verlierer). Sollte Carlsen den Titel gewinnen, hat er mit 22 Jahren im Schach alles erreicht. Dann wird’s Zeit für ihn, seine anderen Talente zu entfalten. Denn auch fürs Schachspiel gilt, was Georg Christoph Lichtenberg in seinen „Sudelbüchern“ einst über die Chemie schrieb: „Wer nichts als Chemie versteht, versteht auch die nicht recht.“ Und nur das Unverstandene bringt einen um den Schlaf.
Malte Lehming
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