WM 2018 in Russland: Luka Modric: Gehasster Liebling
Luka Modric ist der vielleicht beste Spieler der WM. In der Heimat wird er trotzdem nicht gemocht. Könnte der Titel das Land mit seinem Star versöhnen?
Sie hassen ihn, ihren Superstar. Sie hassen Luka Modric. Den Kapitän und Taktgeber der kroatischen Nationalmannschaft. Angeklagt in der Heimat wegen Falschaussage und Verstrickung in einen Korruptionsskandal. Im schlimmsten Fall droht eine Haftstrafe. Er soll gemeinsame Sache gemacht haben mit Zdravko Mamic, dem einstigen Präsidenten von Dinamo Zagreb. Jenem Verein, von dem Luka Modric im Sommer 2008 zu Tottenham Hotspur wechselte, für über 20 Millionen Euro. Damit war er der bis dahin teuerste Fußballer in der Geschichte Kroatiens.
Der Präsident verdiente kräftig mit, der Spieler leistete, so lautet zumindest die Anklage, mit einem nachträglich unterzeichneten Vertrag Beihilfe. Insgesamt 15 Millionen Euro soll Mamic unterschlagen haben. Anfang Juni wurde er zu einer Haftstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Antreten will er sie nicht. Mamic hat sich nach Bosnien-Herzegowina abgesetzt, kann von dort nicht ausgeliefert werden, da er neben der kroatischen auch die bosnische Staatsangehörigkeit besitzt. Modric zaubert derweil bei der Weltmeisterschaft in Russland. Und kassiert Lobeshymnen: „Er ist der beste kroatische Spieler aller Zeiten“, sagt Ivan Rakitic, Nationalmannschaftskollege und Mittelfeld-Ass in Diensten des FC Barcelona. Während sie im kroatischen Zadar Plakate aufhängen, dort, wo für ihn alles begann. Sie fühlen sich verraten von einem, der sie stolz machen sollte. Sie hassen das System Mamic, der über Jahre den kroatischen Fußball ausgebeutet hat. Und jetzt auch seinen Erfüllungsgehilfen. „Luka, Du wirst Dich eines Tages noch an das hier erinnern“, steht auf einem Bettlaken geschrieben, das schlaff über dem Restauranteingang des Hotels im Wind steht, in dem die Familie Modric einst während des Bürgerkriegs in Jugoslawien Zuflucht fand. Die zur Notunterkunft umfunktionierte Anlage war damals der große Spielplatz des kleinen Luka. Ob im engen Treppenhaus oder im Speisesaal. Er soll damals mehr Fenster zerstört haben als die Bomben des Krieges, vor dem sie Unterschlupf suchten. Von den Kämpfen, so erinnert sich Modric, hat er nicht viel mitbekommen: „Es gab dort sehr viele Kinder, mit denen ich spielen konnte. Die Eltern versuchten uns so weit wie möglich vom Krieg fernzuhalten.“
Mit dem Frieden dann beginnt die große Karriere. 2001 wechselt Modric, im Alter von 16 Jahren, zu Dinamo Zagreb. Fünf Jahre zuvor war er bei Hajduk Split noch durchgefallen - zu schmächtig, lautete das Urteil. 1,72 Meter, rund 65 Kilogramm. Doch diese Technik, diese Laufstärke und Übersicht! Der schmale Zauberlehrling soll dennoch Nachhilfeunterricht nehmen, wird an den bosnischen Erstligisten Zrinjski Mostar verliehen. In eine Liga, die mehr Kampf denn Magie ist. Ein Jahr später steht er mit gerade 17 Jahren zur Wahl als Spieler der Saison. Modric sagt: „Wer in dieser Liga spielen kann, kann überall spielen.“
Wenn Ronaldo eine Sensation ist, ist Modric derjenige, der sie ermöglicht
Das Leichtgewicht lernt, sich zu wehren. Und steigt auch deswegen auf, immer weiter Richtung Fußballhimmel. Meister und Spieler des Jahres in Kroatien, Spieler der Saison und Rekordverdiener bei Tottenham, dann, 2012, der Wechsel zu Real Madrid. Auch seinetwegen muss Mesut Özil ein Jahr später gehen. Trainer Carlo Ancelotti soll sich für einen der beiden Spielmacher entscheiden, sieht in Modric das bessere Gesamtpaket.
Der Kroate ist nicht nur offensiver Regisseur, sondern längst auch defensiver Abräumer. Kollegen und Trainer geraten regelmäßig ins Schwärmen über ihn. Nico Kovac, der neue Bayern- und Ex-Nationaltrainer Kroatiens, sagte früh: „Er ist cool wie ein Großer.“ Slaven Bilic, ebenfalls Ex-Nationaltrainer, offenbarte: „Seine Qualitäten sind überragend. Ich habe die ganze Taktik um Modric gestrickt.“ Sir Alex Ferguson, Manchester Uniteds Manager-Ikone, wiederum sagte schon 2012: „Er macht praktisch nie Fehler.“ Sechs Jahre und allein vier Champions-League-Titel später befand dann selbst Cristiano Ronaldo, dieser Hypersuperstar: „Modric entscheidet, wie wir spielen.“
Wenn Ronaldo eine Sensation ist, ist Modric derjenige, der sie ermöglicht. Er bereitet nicht viele Treffer vor, in der abgelaufenen Saison der spanischen Liga waren es gerade einmal sechs Assists. Seine Kernkompetenz ist der vorletzte Pass. Modric macht seine Mitspieler besser, bringt sie mit seinen Spielverlagerungen in aussichtsreiche Positionen, reißt mit seinen Läufen Lücken, die Cristiano Ronaldo und Co. erst den Platz verschaffen, die sie für ihre Tor-Aktionen brauchen. Dann pflügt er durch das Mittelfeld, die lange Mähne wogt über der schmalen Statur wie der Aufgalopp von etwas Großem. „El pony“ nennen ihn seine Mitspieler bei Real, weil sein fußballerisches Wesen etwas von einem galoppierenden Pferd besitzt.
„Wenn ich den Ball habe, bin ich zufrieden“, sagte er vor der WM im Interview mit „El Pais“ über sich. Dabei ist eine seiner stärksten Szenen, die er im Laufe dieser Weltmeisterschaft bisher zeigte, die glatte Anti-These dazu. Im Spiel gegen Argentinien, Kroatien gewinnt mit 3:0, Modric erzielt ein Traumtor zum vorentscheidenden 2:0, ist es eine Millisekunde nur, die das ganze Können dieses Spielverstehers auf den Punkt bringt. Ein Zweikampf im Mittelfeld, ein Kroate und ein Argentinier ringen hölzern um den Ball, ehe er mehr durch Zufall zu Modric prallt. Er hat kaum Zeit, die Situation zu erfassen, einen Augenaufschlag vielleicht, und als Zuschauer wird man erst viel später realisieren, wie besonders es ist, was bei ihm so natürlich scheint.
Außenristpass über 40 Meter, hinaus auf den rechten Flügel und in den Lauf, nein, in die Bewegung des großen Zehs von Kroatiens Stürmer Ante Rebic. Ein Spielzug, der vielen Profis in dieser Präzision selbst mit Vorlauf nur schwerlich gelingen würde - Modric wählte und realisierte ihn mit einer Selbstverständlichkeit, die sich mancher für die alltäglichsten Dinge wünschen würde. Und nicht etwa, um etwas Besonderes zu erschaffen, sondern weil es schlicht die beste Wahl schien. Es ist die große Kunst großer Spieler, auf dem Platz niemals in Stress zu geraten, immer eine Lösung parat zu haben. Luka Modric hat dieses Prinzip zur Perfektion getrieben und die beglückenden Fähigkeiten, immer auch Lösungen präsentieren zu können, die anderen Geniestreiche wären.
Modric: Keine Boulevard-Geschichten, keine Instagram-Stories
Modric hofft nicht darauf, dass eine seiner Ideen Wirklichkeit wird, er wählt sie aus, weil er darauf vertrauen kann, dass sie funktionieren. Wo andere ins Risiko gehen müssen, herrscht bei ihm die Gelassenheit des Könners. Das ist es, was ihn zu einem der besten Spieler der Welt macht, auch wenn das angesichts der auf Tor-Highlights beschränkten Berichterstattung oftmals untergeht. Modric ist der vielleicht größte Superstar dieses Sports, der kein Superstar ist.
Wohl auch, weil ihm Allüren fremd sind. Keine Boulevard-Geschichten, keine Instagram-Stories aus dem Privatleben. Würde sich auch kaum lohnen, es geht eher gemächlich zu im Hause Modric: „Eigentlich bin ich am liebsten zu Hause bei meiner Frau und den Kindern. Wir spielen oder schauen Cartoons.“
Er sei eben ein ruhiger Typ und sehr schüchtern, sagt er, außer auf dem Platz, dort verändere er sich. Weil er den Fußball liebt und weil er es hasst, zu verlieren. Er sagt: „Ich glaube auch, dass all das, was ich als Kind in Kroatien erlebt habe, mich einfach dazu zwingt, nicht nachzulassen.“ Weiter, immer weiter. Und wenn er, so wie im Achtelfinale gegen Dänemark, einen Elfmeter in der Nachspielzeit versemmelt, einen Elfmeter, der den sicheren Sieg bedeutet hätte, dann tritt er trotzdem auch im anschließenden Elfmeterschießen an. Und verwandelt. Nicht nachlassen.
Vielleicht erledigt sich das mit dem Hass, der ihm in der Heimat angesichts des ausstehenden Gerichtsverfahrens entgegenschlägt, ja von selbst. So ein WM-Finale heilt schließlich viele Wunden. Bliebe dann nur noch die Frage, ob „El pony“ auch den Paragrafen davongaloppieren kann.
Ilja Behnisch