Borussia Mönchengladbach - Bayern München: Lucien Favre fordert Pep Guardiola - wie in alten Zeiten
Der Klassiker der 70er erlebt eine lang ersehnte Auferstehung: Borussia Mönchengladbach empfängt den FC Bayern München zum Spitzenspiel. Es ist ein Duell mit Historie und Legenden. Dabei hat Gladbachs Trainer Lucien Favre heute vor allem die Zukunft im Blick.
Später am Abend, als sie sich oben in der Nordkurve schon auf die Feierabendbiere freuten und die Nachspielzeit angebrochen war, da fingen sie doch noch an zu singen. Der Trainer hatte es zwar irgendwie verboten, weil noch andere Aufgaben anstanden, aber die waren ja jetzt erledigt, und ein bisschen Spaß muss sein. Also: singen. Oben in der Nordkurve. Schüchtern erst, aber dann doch bestimmt: „Zieht den Bayern die Lederhosen aus!“
Wahrscheinlich haben viele mit eingestimmt. Zwischen Hamburg und Stuttgart. Zwischen Berlin und Leverkusen. Zu Hause und in den Kneipen vor den Fernsehgeräten, die Borussia Mönchengladbachs 5:0-Sieg am Donnerstag in der Europa League über Apollon Limassol zur besten Sendezeit übertrugen. Ewige drei Tage her und längst vergessen, denn es steht Wichtigeres an. Heute bittet Borussia Mönchengladbach den FC Bayern München zum Spitzenspiel (17.30 Uhr), und die ganze Bundesliga betet, es möge doch wieder so sein wie in den Siebzigern.
Damals, als die Borussia vom linken Niederrhein den Bayern mindestens ebenbürtig war, und ein kleines Revival wünscht sich die Konkurrenz in ganz Deutschland. Nicht ganz uneigennützig, denn nur ein Gladbacher Sieg würde der Bundesliga einen Rest an Spannung erhalten. „Ja, ja, alle hoffen, dass wir die Bayern stoppen, alle reden nur noch von den Bayern“, sagt Lucien Favre. „Aber bedenken sie bitte: Ich als Trainer muss die Gesamtsituation im Blick haben. Und die Gesamtsituation heißt nicht nur Sonntag gegen die Bayern zu spielen. Vorher war Limassol, danach kommen Hoffenheim und Dortmund.“
Lucien Favre hat das Wunder geschafft
Der Gladbacher Manager Max Eberl kann sich noch gut daran erinnern, wann eine Gladbacher Mannschaft zuletzt mit der legendären Fohlenelf der Siebziger Jahre verglichen worden ist. Das ist gerade mal vier Jahre her. Die Borussia hatte 6:3 bei Bayer Leverkusen gewonnen, und anschließend bat die „Bild“-Zeitung Wolfgang Kleff, den Torhüter eben jener legendären Fohlenelf, beide Teams Position für Position zu vergleichen: Tobias Levels mit Berti Vogts, Thorben Marx mit Hacki Wimmer und Mo Idrissou mit Jupp Heynckes. Gleich das erste Spiel nach dem Sieg in Leverkusen verloren die Gladbacher vor eigenem Publikum 0:4 gegen den späteren Absteiger Eintracht Frankfurt, wiederum eine Woche darauf kassierten sie eine 0:7-Niederlage beim VfB Stuttgart, und am Ende bedurfte es eines kleinen Wunders, dass die Borussia nicht in die Zweite Liga abstieg.
Lucien Favre hat dieses kleine Wunder vom Niederrhein verantwortet. Der Schweizer Trainer, dessen Rekrutierung viele angesichts der gerade angebrochen Rückrunde als völligen Irrsinn bezeichnet hatten, weil dieser Favre doch eher als Konzepttrainer galt. Und brauchte die Borussia in dieser kritischen Phase als abgeschlagener Tabellenletzter nicht viel mehr einen Feuerwehrmann? Max Eberl hat Lucien Favre damals gegen einigen klubinternen Widerstand durchgesetzt, und er darf diese Entscheidung als bis heute beste seiner Amtsführung rühmen.
Unter Favre schafften die Gladbacher nicht nur den Verbleib in der Liga. Wichtiger noch war, dass die Borussia sich in den folgenden Jahren neu und zurück erfand als eine Mannschaft mit unverwechselbarer Identität. Als eine Mannschaft, die wunderschönen Angriffsfußball spielt und damit bisweilen auch das ganze Land begeistern kann. Nicht nur daheim im Westen, sondern auch im Norden, Süden und Osten. So wie damals die legendäre Fohlenelf mit Berti Vogts, Hacki Wimmer und Jupp Heynckes.
Fußballhistorische Vergleiche sind immer gewagt, vor allem, wenn die Gladbacher Fohlen als Vergleichsobjekt herangezogen werden. Eine Mannschaft, die mit ihrer Geschichte vermutlich für immer einzigartig bleiben wird. Quasi aus dem Nichts stieg dieser Provinzklub vom Niederrhein ab Mitte der sechziger Jahre an die Spitze des europäischen Fußballs auf: Die Gladbacher gewannen zweimal den Uefa-Cup (der damals noch ungleich bedeutender war als heute die Europa League), schafften es 1977 im Europapokal der Landesmeister (dem Vorgängerwettbewerb der Champions League) bis ins Endspiel und lieferten sich auf nationaler Ebene ein Dauerduell mit dem FC Bayern München um die Vorherrschaft in die Bundesliga.
Die Erinnerung an die Siebziger schwingt mit
Lucien Favre hat diese Zeit als Pendler zwischen der Schweiz und Frankreich erlebt. Das heißt: So richtig bewusst hat er nicht mitbekommen, dass Gladbach und Bayern über einen längeren Zeitraum auf dem selben Niveau kickten. „Bayern war immer top, Gladbach auch?“ Favre sagt, für ihn als Westschweizer habe eher der französische Fußball im Mittelpunkt gestanden. „Bayern und Gladbach waren für eine Weile führend in Europa, aber ich bitte Sie: Die Siebziger Jahre sind jetzt bald ein halbes Jahrhundert vorbei! Was damals war, kann und darf mich heute nicht mehr interessieren.“
Im Sommer 1965 waren beide Klubs gemeinsam in die Bundesliga aufgestiegen. 1969 gewannen die Bayern zum ersten Mal nach dem Aufstieg die Meisterschaft, 1970 folgten die Gladbacher zum ersten Mal – und anschließend dauerte es bis 1978, ehe ein anderer Verein (der 1. FC Köln) die Schale wieder in Empfang nehmen durfte. „Unsere beiden Klubs haben praktisch zehn Jahre die Bundesliga beherrscht“, hat der Münchner Franz „Bulle“ Roth einmal in einem Interview mit dem Magazin „11 Freunde“ gesagt. Bayern gegen Borussia, das war das Duell der Giganten. Doch während sich die Münchner dauerhaft als Riesen etabliert haben, entwickelten sich die Gladbacher spätestens ab Mitte der Achtziger wieder zu einem unbedeutenden Provinzklub zurück, dem von der glorreichen Zeit allein die Erinnerung geblieben war.
Bayern-Jäger wollen sie nicht sein
Diese Erinnerung schwingt natürlich auch mit, wenn die Bayern heute in Mönchengladbach antreten; und dass dieses Spiel zugleich das Spitzenspiel der Bundesliga ist, das Duell des Ersten gegen den Zweiten, das ruft erst recht Reminiszenzen an die Siebziger wach. Zur „Hoffnung der Liga“ hat der „Kicker“ die Borussia ernannt, als erster Bayern-Jäger werden die Gladbacher jetzt quasi offiziell geführt – was angesichts der erneut drohenden Langeweile in der Liga eher auf eine gewisse Verzweiflung schließen lässt als auf eine realistische Einschätzung der Gladbacher Möglichkeiten. Auch wenn die Mannschaft in dieser Saison in nunmehr 14 Pflichtspielen unbesiegt ist: Als stabiler Bayern-Jäger sieht sich bei den Borussen niemand. Den Gladbachern geht es um Verstetigung, nicht um den schnellen Erfolg.
„Man darf nicht vergessen, dass wir vom Etat nur die Nummer elf der Liga sind“, sagt Lucien Favre. „Viele Mannschaften haben groß investiert, zum Beispiel Hoffenheim, Hamburg, Stuttgart oder auch Hertha BSC“, jener Verein, der sein Sprungbrett in die Bundesliga war. 2007 hatte Favre in Berlin einen Umbruch eingeleitet und 2009 beinahe die Qualifikation für die Champions League geschafft. Jetzt ist er mit Gladbach auf einem guten Weg. Seitdem Lucien Favre 2011 den eigentlich schon sicheren Abstieg doch noch abgewendet hat, haben die Gladbacher stets einen einstelligen Tabellenplatz belegt. Vereine wie den HSV, Werder Bremen oder den VfB Stuttgart, die noch vor zehn Jahren in unerreichbarer Ferne schienen, haben die Gladbacher inzwischen weit hinter sich gelassen – sportlich und finanziell.
Ihre stetig gute Entwicklung wird nun ligaweit selbst als vorbildlich erachtet. Und es ist zumindest eine interessante Fußnote der neueren Geschichte, dass die Prinzipien des Erfolgs die gleichen sind wie die in den Siebzigern: Die Gladbacher haben jetzt wieder eine geerdete Vereinsführung, einen strukturiert arbeitenden Manager und einen starken Trainer. Sie betreiben eine solide Finanzpolitik und eine glänzende Nachwuchsarbeit.
Und jetzt sind sie auch noch Bayern-Jäger. Gegen diese Formulierung würde Lucien Favre im Normalfall sturmlaufen, aber das muss er im konkreten Fall gar nicht. Diesen Job übernehmen gern seine Spieler. Der Verteidiger Martin Stranzl sagt, die Bayern hätten nach ihrem Sieg am Dienstag in der Champions League in Rom immerhin zwei Tage Vorsprung, „und außerdem haben sie sich auch noch den Segen vom Papst abgeholt“. Sein Kollege Granit Xhaka ergänzt, ganz im Sinne seines Trainers: „Platz zwei nach 14 unbesiegten Spielen bedeutet nur, dass wir im Moment sehr gut drauf sind.“
Auf dass die Fans oben in der Nordkurve vor den Feierabendbieren ein Lied anstimmen können, gern über Bayern und Lederhosen.