Tagesspiegel-Wahl: Bester defensiver Mittelfeldspieler: Lothar Matthäus, der geniale Zerstörer
Unsere Jury hat Lothar Matthäus zum besten defensiven Mittelfeldspieler der Bundesliga-Geschichte gewählt. Matthäus’ Tragik ist, dass sich kaum einer mehr erinnert, welch begnadeter Stratege er war. Denn keiner demontierte sein Denkmal so wie er.
Wer wissen will, wie großer Fußball im vergangenen Jahrtausend aussah, darf sich gern noch einmal das erste deutsche Spiel bei der WM 1990 anschauen. 10. Juni in Mailand, Deutschland gegen Jugoslawien. Lothar Matthäus und Jürgen Klinsmann haben eine frühe 2:0-Führung herausgeschossen, aber kurz nach der Halbzeitpause treffen auch die Jugoslawen und auf einmal flattern die Deutschen aufgeregt und durcheinander über den Platz. Keiner mag sich so recht beteiligen am Spiel. Klaus Augenthaler, der sonst so tief in sich ruhende Abwehrchef, traut sich tief in der eigenen Hälfte nur, den Ball ein paar Meter nach vorn stupsen und delegiert die Verantwortung weiter an Lothar Matthäus.
Na, dann wollen wir mal.
Matthäus dreht sich einmal um die eigene Achse. Die um ihn herum hastenden Gegenspieler in den blauen Leibchen nimmt er nur am Rande wahr. Er treibt den Ball vor sich her wie ein Cowboy die Herde, seine Peitsche ist die Stiefelspitze, es ist immer die rechte. Neunmal tritt er zu. Kick Nummer acht scheint etwas lang geraten, aber auch das ist eingeplant, denn Matthäus braucht angemessen Anlauf für Nummer neun. Aus 25 Meter jagt er den Ball flach in die rechte Torecke, so wuchtig und platziert, dass der jugoslawische Torhüter auch nicht ansatzweise die Chance bekommt, seine Hand dazwischen zu bekommen.
Lothar Matthäus’ Powersolo gegen Jugoslawien ist einer der beeindruckendsten Momente einer ansonsten wenig beeindruckenden Weltmeisterschaft. Am Ende gewinnen die Deutschen 4:1 und befreien sich selbst wie die vereinigte Gegnerschaft von allen Zweifeln auf dem Weg zum WM-Titel. Die „Gazzetta dello Sport“ titelt: „Matthäus, was für eine Magie!“ Und der deutsche Teamchef Franz Beckenbauer spricht über Lothar Matthäus in einem Ton, wie er sonst nur über sich selbst spricht: „Wenn er so spielt, gibt es keinen Besseren auf der ganzen Welt.“
Beckenbauer hat in seinem jetzt bald 70 Jahre währenden Leben viel Blödsinn erzählt – und manchmal auch Recht gehabt. Ballack hin, Schweinsteiger her: Wahrscheinlich war Matthäus der beste deutsche Fußballspieler seit eben jenem Beckenbauer. Das Tragische daran ist, dass sich kaum noch jemand daran erinnern kann, daran erinnern will. In der allgemeinen Wahrnehmung ist Lothar Matthäus nicht der technisch perfekt ausgestattete Stratege mit der angeborenen Spielintelligenz. Sondern eine gescheiterte Existenz, deren Intelligenz nur für den Fußball reichte. Nicht der Athlet mit der gottgegebenen Physis, die ihn noch als 39-Jährigen auf höchstem Niveau spielen ließ. Sondern der Egomane, der auch mit 39 noch nicht aufhören wollte.
Lothar Matthäus ist für den Fußball, was Boris Becker für das Tennis ist. Eine Lichtgestalt, deren Absturz so selbstverständlich wie unbegreiflich erscheint.
Es ist billig, sich über Matthäus lustig zu machen. Über sein Scheitern als Trainer bei drittklassigen Mannschaften und als Begleiter ständig jünger werdender Frauen, beides hat die „Süddeutsche Zeitung“ einmal auf den Punkt gebracht mit der Einschätzung, dass „Lothar Matthäus nach allem, was man hört, das Zeug zum modernen Trainer hätte. Sein Problem ist nur, dass er sich von den hoffnungsvollen Talenten, die er fördert, meistens wieder scheiden lässt.“
Wer Lothar Matthäus ein wenig näher kommt, wird ihn kaum als anmaßend-arroganten Schnösel empfinden. Eher schon als treuherzige und eher simpel strukturierte Persönlichkeit. Ist das ein Makel? Auch Franz Beckenbauer steht nicht im Verdacht, eine intellektuelle Leuchte und charakterfestes Vorbild zu sein. Er hat erst als Jugendspieler seine Freundin geschwängert und im Seniorenalter auch eine Sekretärin auf der Weichnachtsfeier seines FC Bayern. Beckenbauer ist als Steuersünder nach Amerika geflüchtet und glaubt fest an eine Wiedergeburt als Pflanze.
Niemand schert sich drum. Otto Rehhagel hat dieses Phänomen einmal so erklärt: „Wenn der Franz Beckenbauer morgen sagt ,Der Ball ist rechteckig’ klatschen alle Beifall und schreiben: ,Endlich hat es einmal einer gesagt.’“
Matthäus würden viele nicht mal die Behauptung abnehmen, der Ball sei rund (was er, streng mathematisch betrachtet, ja auch nicht ist).
Video: Matthäus' bestes Spiel in der Nationalelf
Wie Matthäus in Mailand zum Weltstar reifte
Franz Beckenbauer ließ die anderen abseits des Fußballplatzes immer im Glauben, sie würden das Spiel bestimmen. Lothar Matthäus glaubt heute noch, er selbst bestimme das Spiel. Das Drama um diesen, gewiss!, Jahrhundertspieler ist: Der Mann hat nie gelernt, sich jenseits seiner eigentlichen Begabung zurückzunehmen. Und leider hat ihm das auch keiner seiner zahlreichen Berater geraten. Lothar Matthäus war mit dem Mundwerk immer mindestens so schnell wie mit den Beinen. Schon mit 19, nachdem er bei einer Südamerika-Tournee mit der Nationalmannschaft binnen drei Tagen erst den Brasilianer Zico und dann den Argentinier Maradona ausgeschaltet hatte, trompete er in die Mikrofone: „Jetzt habe ich gegen beide gespielt: Maradona und Zico. So gut wie der Kalle Rummenigge sind sie beide nicht.“ Matthäus wollte so gern bescheiden sein und schaffte doch, wie später noch so oft, das Gegenteil.
1984, ein paar Wochen vor seinem Wechsel aus Mönchengladbach nach München, stand noch das Pokalfinale mit der Borussia gegen den FC Bayern an. Wer hätte es ihm verübelt, wenn er im finalen Elfmeterschießen außen vor geblieben wäre. Matthäus aber stellte sich der Verantwortung, scheiterte – und wurde von den Gladbacher Fans als Verräter beschimpft. Als er 1988 von den Bayern weiter zog zu Inter Mailand, rief ihm Uli Hoeneß hinterher, er habe es im Falle Matthäus „nicht gerade mit einer ausgereiften Persönlichkeit“ zu tun gehabt.
Das ist im Nachhinein lustig zu lesen, denn in Mailand reifte Matthäus zum Weltstar. Zu einem, der sich nur auf den Fußball konzentrierte und auch nur über den Fußball wahrgenommen wurde. Bei Inter erlebte er die besten Jahre seiner Karriere, wurde Italienischer Meister, Uefa-Cup-Sieger und Weltmeister. 1992 ging er nur deshalb zurück zu den Bayern, weil Juventus Turin ihn wegen eines Kreuzbandrisses nicht haben wollte und von einem bereits vereinbarten Wechsel Abstand nahm.
Matthäus spielte weiter auf hohem Niveau und kam doch nie an gegen sein schlechtes Image, das ihm mehr zusetzte als jeder Gegenspieler. Daran war er selbst keineswegs schuldlos. Den Wechsel seines Intimfeindes Klinsmann nach München etwa kommentierte er im größeren Kreis mit der Wette: „Der schießt nie 15 Tore!“ Weil Matthäus gern Details aus der Münchner Kabine an ein Blatt mit besonders großen Buchstaben weiterreichte und darüber ein unfreiwillig komisches Tagebuch veröffentlichen ließ, wurde er als Kapitän abgesetzt. Und nachdem die Nationalmannschaft 1996 bei der Europameisterschaft in England ihren bis heute letzten großen Titel feierte, erwähnten die Beteiligten gern, das sei nur möglich gewesen, weil Matthäus verletzt gefehlt habe.
Im Frühjahr 2000 wollte er es machen wie Franz Beckenbauer. Matthäus suchte das Abenteuer in New York und provozierte doch sofort Häme, als er bei einer Pressekonferenz der Metro Stars im ungewohnten Englisch antwortete, mit doch recht improvisierten Formulierungen. Anders als Beckenbauer kehrte Matthäus nicht als Weltmann in die Heimat zurück. Sondern als alternder Profi, für ein allerletztes Comeback in der Nationalmannschaft. Mit 39, für die Europameisterschaft in Belgien und den Niederlanden.
Dabei wäre er beinahe durch die Hintertür Bundestrainer geworden. Es heißt, die Nationalspieler Markus Babbel, Jens Jeremies und Dietmar Hamann hätten ihn zum Putsch gegen den überforderten Erich Ribbeck gedrängt. Matthäus habe schon seine Zustimmung gegeben – bis ihm aufgefallen sei, dass er dann ja nicht mehr als Spieler dabei gewesen wäre. Die Deutschen trudelten schon in der Vorrunde raus, mit Matthäus auf der international längst abgeschafften Liberoposition.
Die Tragik des Lothar Matthäus liegt auch darin, dass er selbst auf dem Fußballplatz nichts unversucht gelassen hat, sein eigenes Denkmal zu demontieren.