Gestürzter Skispringer Andreas Wellinger: Kommt jetzt die Angst?
Andreas Wellinger hat seinen Sturz wohl körperlich gut überstanden. Doch seit dem Rücktritt von Thomas Morgenstern weiß man: Angst ist kaum zu überwinden
Erst zieht der linke Ski nach unten. Dann reißt Andreas Wellinger beide Hände in die Höhe, um bei einer Geschwindigkeit von 90 Kilometern pro Stunde in der Luft das Gleichgewicht zu halten. Doch es ist zu spät, der deutsche Skispringer hat die Kontrolle über seinen Sprung bereits verloren. Andreas Wellinger wird um 180 Grad herumgewirbelt, knallt mit dem Rücken in den Schnee und rutscht ohne Ski den Aufsprunghang hinunter. Kurzzeitig kann er sich benommen aufrichten, doch schließlich müssen ihn zwei Sanitäter aus dem Skisprung-Stadion hinaustragen.
Es war ein äußerst heftiger Sturz, den der Mannschafts-Olympiasieger Andreas Wellinger im ersten Durchgang beim Weltcupspringen in Kuusamo erlebt hat. Der 19-Jährige erlitt Prellungen, aber offenbar keine schweren Verletzungen, wie eine Untersuchung im Krankenhaus ergab. Andreas Wellinger konnte am Sonntag die Heimreise mit der Mannschaft antreten, in Deutschland soll er weiter untersucht werden. Doch genauso wichtig ist die Frage, wie Andreas Wellinger diesen Sturz psychisch verarbeiten kann.
„Er kannte bislang keine Angst, ist immer unbeschwert gesprungen“, sagt Bundestrainer Werner Schuster, „so einen Sturz muss er erst mal aus dem Kopf bekommen.“ Eventuell werde der Deutsche Skiverband (DSV) sogar einen Sportpsychologen konsultieren.
Thomas Morgenstern konnte nach zwei Stürzen nicht mehr ohne Angst springen - und trat zurück
Wie entscheidend es ist, beim Skispringen ohne Angst zu springen, zeigt der Rücktritt des dreimaligen Olympiasiegers Thomas Morgenstern. Der 28 Jahre alte Österreicher konnte nach zwei Stürzen im vergangenen Winter nicht mehr angstfrei in die Anlaufspur gehen und beendete im Spätsommer seine Karriere. Ein ungewöhnlicher Schritt. „Angst ist ein Tabuthema im Skispringen“, sagte Thomas Morgenstern dem Fernsehsender „Eurosport“. „Angst kann man nicht einfach abschalten, ich muss mich ständig dieser Angst stellen.“ Nach seinem dramatischen Sturz beim Skifliegen in Kulm lag Thomas Morgenstern mit einem Schädeltrauma und einer Lungenquetschung auf der Intensivstation des Unfallkrankenhauses Salzburg. Vier Wochen später holte er bei den Olympischen Spielen in Sotschi mit der Mannschaft die Silbermedaille – doch seine Angst ist er nicht mehr losgeworden.
Verständlich eigentlich, in dieser gefährlichen Sportart und nach seinen Erfahrungen. Trotzdem muss Morgenstern seine Entscheidung auch verteidigen. „Warum soll ich keine Angst haben?“, sagt er. „Wer das nicht versteht, der lügt.“
Andreas Wellinger wollte in Kuusamo zu viel
Andreas Wellinger hat, zu seinem Glück, noch nicht derartige Sturzerfahrungen machen müssen wie Thomas Morgenstern. „Er muss sich jetzt erst mal erholen und die Prellungen auskurieren“, sagt Bundestrainer Schuster. Wellinger sollte sich in dieser Saison eigentlich zum Siegspringer der deutschen Mannschaft entwickeln. Mit einem dritten Platz beim Auftaktspringen in Klingenthal war er auf einem guten Weg. In Kuusamo aber wollte er nach einem 14. Platz am Vortag zu viel.
„Am Samstag wollte er gewinnen und hat überzogen“, sagte Schuster. Wellinger ist zu aggressiv und zu früh abgesprungen. „Er steht steil in der Luft und bekommt dadurch zu viel Luft unter den Ski“, erklärte der 45-jährige Österreicher. An den äußeren Bedingungen habe der Sturz nicht gelegen. „Die Jury hat keinen Fehler gemacht“, sagte Schuster.
Mit der Reaktion seiner Springer war der Bundestrainer dann überaus zufrieden, Severin Freund flog sogar noch auf den dritten Platz. „Wie sie alle im zweiten Durchgang mit der Last nach dem Sturz von Andy Wellinger aufgetreten sind, geschlossen, mutig und sicher ihre Sprünge heruntergebracht haben, das nötigt mir höchsten Respekt ab“, sagte er.
Auch Thomas Morgenstern ist in Kuusamo gestürzt. 2003 schlug er als 17-Jähriger unabsichtlich einen Salto in der Luft und knallte auf den Aufsprunghügel auf. Später sprang er noch zu acht WM-Titeln und drei Olympiasiegen. (mit dpa)