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Abflug. Danny Rose (l.) und Harry Kane wirken nach Englands erstem WM-Sieg im Elfmeterschießen sehr befreit.
© Franck Fife/AFP

Das Wunder von Moskau: Kane das denn möglich sein!

Der HSV steigt ab, Deutschland fliegt in der Vorrunde raus, England gewinnt ein Elfmeterschießen. Was kommt als Nächstes?

In den vergangenen Monaten klagten Fans immer wieder über Ermüdungserscheinungen und eine gewisse Übersättigung am Fußball. Jedes Jahr dieselben Meister, jeden Monat dieselben Trainerwechsel, jede Woche dieselben Floskeln in Field-Interviews. Der Fußball schien auf seinem Weg zur Perfektion zu vergessen, dass das Spiel einst durch seine Spontanität lebte. Durch überraschende Momente und irre Wendungen.

Dieses Jahr allerdings gibt es wenig Grund zur Klage. Natürlich, der FC Bayern gewann zum circa zweihundertsten Mal die Bundesliga, Real Madrid holte wieder die Champions League. Aber der Fußball erzählte auch neue Geschichten, und einige davon gehen sogar als Wunder durch. Der HSV stieg zum Beispiel das erste Mal aus der Bundesliga ab, dabei konnte man in den vergangenen Jahren den Eindruck gewinnen, dass dies, egal wie schlecht die Mannschaft spielt, nie passieren wird. Dann schied die DFB-Elf, der amtierende Weltmeister, zum ersten Mal in der Vorrunde einer WM aus. In einer Gruppe mit Südkorea, Schweden und Mexiko. Das größte Wunder aber ereignete sich am Dienstagabend im Moskauer Spartak-Stadion: England gewann ein K.o.-Spiel bei einer WM im Elfmeterschießen.

Die jüngere Geschichte der englischen Nationalmannschaft ist vor allem eine Geschichte des Scheiterns im letzten Moment. Kein Team hat bei großen Turnieren eine schlechtere Bilanz im Elfmeterschießen - England trat siebenmal an, gewann aber nur ein Mal (im Viertelfinale der EM 1996 gegen Spanien). Besonders bitter war die Halbfinal-Niederlage gegen Deutschland bei der EM 1996 im eigenen Land. In der Verlängerung rutschte Paul Gascoigne vor dem leeren Tor an einer Hereingabe von Alan Shearer vorbei. Und dann folgte, wie so oft, die Demütigung vom Punkt. Die Angst der Schützen beim Elfmeter konnte man bis unters Stadiondach riechen. Einer von ihnen hieß Gareth Southgate. Er war der sechste Schütze, der Ersatzmann. Er verschoss.

Wegen Soutgate stehen die Engländer im Viertelfinale

Viele haben vor der diesjährigen WM in Russland natürlich gewitzelt, dass England mit dem Trainer Gareth Southgate spätestens beim ersten Elfmeterschießen rausfliegen würde. Die Wahrheit ist: Gerade wegen Southgate stehen die Engländer nun im Viertelfinale. Gerade wegen des tragischen Schützen von 1996 können die Engländer mittlerweile Elfmeter schießen.

Schon in der Vorrunde konnte man im Spiel gegen Panama staunen, wie souverän Harry Kane seine Elfmeter verwandelte. Zweimal mit voller Wucht ins linke obere Eck. Okay, war nur Panama, unkten einige. Aber die Schüsse hätte kein Torhüter der Welt pariert. Gegen Kolumbien verwandelte Kane in der regulären Spielzeit erneut gekonnt, diesmal direkt in die Mitte. England spielte während der 90 Minuten keinen Zauberfußball, aber die Spieler zeigten eine starke Präsenz. Bis die Schlussphase hereinbrach, bis das große englische Flattern begann, eine Ecke, ein Kopfball, 1:1. Kennt man ja.

Vor dem Elfmeterschießen schien die Sache also klar: Wie sollten diese nervösen Spieler hier gewinnen? Wer vertraute ihnen noch? Einer auf jeden Fall. Trainer Gareth Southgate. Er stand dort unten, Weste, Krawatte, blaues Hemd, ordentlich aufgekratzt, bisschen verschwitzt, wie ein Makler an der Wallstreet, der gerade ein paar Millionen Miese gemacht hatte, aber immer noch den Glauben besaß, dass sich in ein paar Minuten alles zum Guten wenden wird.

In seiner Biografie hat er ausführlich das Aus bei der EM 1996 gegen Deutschland analysiert. Der damalige Trainer Terry Venables hätte sich erst kurz vor dem Elfmeterschießen an ihn gewandt. „Gareth, wenn es zum sechsten Elfmeter kommen sollte, willst du ihn schießen?“ Southgate, damals ein Jungspund mit gerade mal neun Länderspielen, glaubte, er könnte nicht ablehnen und nickte. Ein paar Sekunden später tauchte Venables wieder neben ihm auf. „Gareth, hast du in deiner Karriere überhaupt mal einen Elfmeter geschossen?“ Southgate bejahte wieder, weitere Details wollte Venables nicht wissen. „Meine Elfmeter-Karriere war in Wahrheit sehr mies: ein vergebener Strafstoß drei Saisons zuvor“, schrieb Southgate. „Ich dachte aber, dass der sechste Schütze eh nicht mehr drankommt.“ Aber sie verwandelten alle, der vierte, der fünfte, und als Stefan Kuntz für Deutschland traf, dachte Southgate, die ganze Welt würde auf ihn schauen. Er schlich zum Punkt, eine bleierne Stille legte sich über das Wembleystadion. „Ich glaubte damals, dass alle Zuschauer nur einen Gedanken hatten: ›Wer ist dieser Typ? Und warum schießt er einen Elfmeter?‹“ Heute sagt Southgate, dass er viel gelernt habe an diesem Tag.

Gary Lineker schoss 20 bis 30 Elfmeter am Tag

Das Wichtigste: Elfmeterschützen muss man vorher bestimmen, und Elfmeter sollte man trainieren. Eine Meinung, die lange als unpopulär in England galt. In dem Buch „Der Lieblingsfeind“ erinnert sich etwa Gary Lineker an das Elfmeterschießen bei der WM 1990 gegen Deutschland. Er sei damals der Einzige in der Mannschaft gewesen, der Elfmeter geübt habe. 20 bis 30 schoss er am Tag. Die anderen, auch die Trainer, glaubten: Elfmeter sind reines Glück. Außerdem sei die Situation im Stadion eine andere als im Training, der Druck viel größer. „Wenn das so ist, dann dürfte kein Golfspieler seinen Putt üben“, sagte Lineker. 1990, in jenem Halbfinale in Turin, verwandelte er. Stuart Pearce und Chris Waddle vergaben.

Am Dienstagabend hat England tatsächlich verdammt viel Glück. Der vierte Elfmeter von Kolumbiens Mateus Uribe springt von der Latte vor die Torlinie, den fünften hält Englands Keeper Jordan Pickford. Trotzdem: England gewinnt auch, weil die Spieler vorbereitet sind. Trainer Southgate hat sogar die Eventualität berücksichtigt, dass der dritte Torhüter zum Einsatz kommt. Seine feste Reihenfolge, die er mit den Spielern abgesprochen hat, umfasst alle 23 Profis des Kaders.

Am Ende ist der Sieg aber ein Resultat von Training und Können. Eric Dier trifft den finalen Schuss, zwar nicht mit der Präzision eines Scharfschützen, aber er trifft. Der Ball landet in der linken unteren Ecke. David Ospina streckt sich, kann den Ball aber nur noch berühren, nicht mehr aufhalten.

England spielt im unteren Turnierbaum, dem vermeintlich leichteren. Jetzt wartet Schweden, bei einem Sieg geht es weiter gegen Russland oder Kroatien. 2018 scheint alles möglich, auch England im Finale, auch England als Weltmeister. Und wenn das passiert, dürfen alle wieder hoffen, die ihre Hoffnung vor vielen Jahren begraben haben. Dann dürfen sogar Schalke-Fans wieder von der Meisterschaft träumen.

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