Nationalmannschaft - WM-Qualifikation: Joshua Kimmich oder warum die Kunst ihre Grenzen hat
Der Münchner Joshua Kimmich hat das Zeug, zum neuen Lieblingsspieler von Bundestrainer Joachim Löw zu werden.
Die Fußball-Traditionalisten, die immer noch am liebsten Gras fressen, selbst wenn der Rasen vorher gebrannt hat, haben es wahrlich nicht leicht. Gerade haben sie sich widerwillig mit der Existenz des Syndesmosebandes abgefunden, da werden sie mit dem nächsten neumodischen Quatsch konfrontiert, mit sogenannten neurogenen Verletzungen. Angeblich sind sie in der Praxis von Dr. Müller-Wohlfahrt erfunden worden, was ihnen vermutlich eine lange Lebensdauer bescheren wird – und Bundestrainer Joachim Löw aktuell vor ein sehr profanes Problem stellt. Mario Gomez, der einzige echte Stürmer in seinem Kader, fällt mit einer neurogenen Verhärtung in der Gesäßmuskulatur für die WM-Qualifikationsspiele gegen Tschechien (Samstag) und Nordirland (Dienstag) aus. Auch wenn deswegen nicht gleich der nationale Notstand ausgerufen werden muss: „Das ist natürlich schade“, findet Kapitän Manuel Neuer. „Aber wir haben sehr viele Spieler, die Tore erzielen können.“
In den vergangenen Wochen hat sich in dieser Disziplin ein junger Mann hervorgetan, der zuvor nicht als Torschütze aufgefallen war. Joshua Kimmich vom FC Bayern München hat allein im Monat September – wettbewerbsübergreifend – fünf Tore geschossen und im Oktober bei erster Gelegenheit auch schon wieder eins. Damit hat er in dieser Saison schon häufiger getroffen als die Fachkräfte Thomas Müller, Julian Draxler, Mario Götze und Mario Gomez. Zusammen wohlgemerkt. „Momentan springen mir die Bälle vor die Füße“, sagt der 21 Jahre junge Kimmich in unangebrachter Bescheidenheit. Es ist wohl eher eine Sache der Erfahrung: „Ich erkenne die Situationen, in denen ich vorne mit reingehen kann, jetzt besser.“
Trotzdem plant Joachim Löw für die anstehenden Länderspiele definitiv nicht mit Kimmich als Mittelstürmer – wobei: Überraschen würde es wohl auch niemanden. Es hat ja auch niemanden überrascht, dass der Mittelfeldspieler Kimmich, der bei den Bayern in der vergangenen Saison als Innenverteidiger ausgeholfen hatte, für die Nationalelf im Sommer plötzlich auf der für ihn bis dahin ungewohnten Position des rechten Verteidigers spielte. Seitdem wird ihm im Prinzip alles zugetraut. Und mag Kimmich sich noch jedes Mal aufs Neue freuen, wenn er für ein Länderspiel nominiert wird – das Publikum nimmt seine Berufung längst routiniert zur Kenntnis: Ja, was denn sonst?
Bundestrainer Löw, ein erklärter Freund der Ästhetik, hat vor einigen Jahren Kreativität zur neuen deutschen Tugend ernannt
„Er hat sich sehr gut weiterentwickelt“, sagt Manuel Neuer. „Man kann nur den Hut davor ziehen, wie er versucht zu lernen, um auf allen Positionen seinen besten Fußball zu spielen.“ Dass Kimmich polyvalent gut ist, ist mehr als nur ein Gefühl. Jens Hegeler, Profi von Hertha BSC und Mit-Erfinder der Packing-Datenanalyse, hat sich in dieser Woche als Fan von Joshua Kimmich geoutet. Egal ob im defensiven Mittelfeld hat, als Innen- oder Außenverteidiger – seine Packing-Werte waren überdurchschnittlich. „Er hat das Spiel generell verstanden“, folgert Hegeler daraus. „Er weiß, wie er dem Gegner durch seine Spielweise wehtun kann.“
Ralf Rangnick, der Sportdirektor von Rasenballsport Leipzig, der Kimmich 2013 aus der U 23 des VfB Stuttgart verpflichtet hat, hat in einem Interview mit der „FAZ“ gesagt: „Kimmich kann sehr vieles richtig gut, aber seine Mentalität ist herausragend.“ Nach Jahren, in denen sich der deutsche Fußball vor allem um die Schönheit des Spiels verdient gemacht hat, wird die Mentalität gerade wieder schleichend rehabilitiert – auch in der Nationalmannschaft. Bundestrainer Löw, ein erklärter Freund der Ästhetik, hat vor einigen Jahren Kreativität zur neuen deutschen Tugend ernannt. Bei der EM im Sommer hat er dann schmerzhaft erfahren, dass auch die Kunst Grenzen hat. Während Portugal mit nüchterner Effizienz Europameister geworden ist, hat sich seine Mannschaft in ihrer Kunstfertigkeit zu Tode gekreiselt.
Die Deutschen haben versucht, selbst aus dem Torschuss noch ein Happening zu machen, dabei ist die Chancenverwertung laut Löw „eine Sache der Konzentration im Abschluss und der Mentalität“. Vielleicht ist es gerade deshalb kein Zufall, dass Joshua Kimmich sich zuletzt so verlässlich als Torschütze hervorgetan hat. Wenn Joachim Löw es mit seinem Paradigmenwechsel ernst meint, hat der Münchner gute Chancen, zum neuen Lieblingsspieler des Bundestrainers aufzusteigen. Seitdem er bei der EM im letzten Vorrundenspiel gegen Nordirland erstmals in der Startelf aufgetaucht ist, hat Joshua Kimmich jede Sekunde auf dem Platz gestanden. Als einziger Nationalspieler überhaupt.