Fußball-Nationalmannschaft: Joachim Löw hat die Qual der Wahl
Das Spiel gegen Spanien ist der vorletzte Test vor der Nominierung des WM-Kaders. Der Konkurrenzkampf in der DFB-Nationalmannschaft ist groß wie nie zuvor.
Toni Kroos besitzt recht klare Vorstellungen davon, wo er nach dem Ende seiner Karriere als Fußballer leben möchte. In seiner Zeit bei Bayer Leverkusen hat er das Rheinland lieben gelernt. Dorthin möchte er eines Tages zurückkehren. Aber auch wenn es ihn schon mit 17 in die weite Welt hinausgezogen hat, wenn er neben dem Rheinland auch München und Madrid kennengelernt hat – seine Herkunft aus Mecklenburg-Vorpommern kann der 28-Jährige nicht verleugnen. Toni Kroos besitzt immer noch die geradezu penetrante Unaufgeregtheit, die den Menschen aus dem Nordosten des Landes nachgesagt wird.
Was es ihm denn bedeute, an diesem Freitag mit der deutschen Nationalmannschaft gegen Spanien anzutreten, das Land also, in dem er aktuell lebt und arbeitet, wurde Kroos am Donnerstag gefragt. „Relativ wenig“, antwortete der Mittelfeldspieler von Real Madrid. Das Spiel sei ganz sicher „kein weltbewegendes Ereignis“.
Das weltbewegende Ereignis steht für die deutschen Fußballer erst im Sommer an, wenn sie in Russland den Versuch unternehmen, ihren WM-Titel erfolgreich zu verteidigen. Knapp 90 Tage sind es noch bis zum Auftaktmatch gegen Mexiko. Traditionell aber gelten die Länderspiele im März immer schon als inoffizielle WM-Eröffnungsspiele. Die Begegnungen gegen Spanien in Düsseldorf und am Dienstag im Olympiastadion gegen den Rekordweltmeister Brasilien sind die letzten Gelegenheiten für Bundestrainer Joachim Löw, sich vor der Benennung seines WM-Kaders einen Überblick über den Zustand der möglichen Kandidaten zu verschaffen. „Die WM fängt so langsam an in den Köpfen“, sagt Oliver Bierhoff.
In seiner Funktion als Manager der Nationalmannschaft und ihr prominentester PR-Agent muss er solche Botschaften natürlich verbreiten. In Wirklichkeit aber steckt in den Köpfen der Spieler aktuell wohl eher, wie sie mit ihren Vereinsteams abschneiden, ob (oder wann) sie Meister werden, ob sie den Klassenerhalt schaffen, sich für den Europapokal qualifizieren oder die Champions League gewinnen. Löw weiß, dass seine Nationalspieler „gerade in den Vereinen sehr, sehr wichtige Ziele“ verfolgen. Trotzdem sollten sie das Turnier in Russland zumindest im Hinterkopf haben. Nicht nur bei den beiden Länderspielen, sondern auch in den Wochen danach. „Wir werden genau hinschauen und beobachten, wer uns Trainer mit Leistung überzeugt“, hat Löw angekündigt. Das Schöne ist, dass sich das im Zweifel von selbst ergibt. Kaum ein Nationalspieler kann sich seiner WM-Teilnahme sicher sein. Ziel ist es laut Löw, dass jede Position möglichst doppelt besetzt ist. Für einige kämen locker auch drei oder vier Spieler infrage. Selbst in früheren Problemzonen, im Sturm und in der Außenverteidigung, hat sich die Situation deutlich entspannt. Philipp Max, linker Außenverteidiger des FC Augsburg, ist der beste Torvorbereiter der Bundesliga und galt vielen daher als fast logischer Kandidat für einen Platz im WM-Kader. Löw aber stellte am Donnerstag klar, dass Max in seinen Planungen keine Rolle spiele. Das ist vor allem für Marvin Plattenhardt von Hertha BSC eine gute Nachricht. Seine WM-Teilnahme ist dadurch ein kleines bisschen wahrscheinlicher geworden.
Der Kampf um die WM-Plätze ist hart wie nie
Im Angriff hat Löw als mögliche Alternative zu Timo Werner die Wahl zwischen Mario Gomez und Sandro Wagner, zwischen zwei echten Strafraumstürmern also, die in Deutschland vor zwei Jahren noch auf der Liste der bedrohten Arten standen. „Mario Gomez ist in einer sehr guten Form in der Rückrunde“, sagt Löw. Sandro Wagner spiele bei den Bayern nicht ganz so oft, „aber wenn er gespielt hat, hat er immer ein Tor gemacht. Beide haben Selbstbewusstsein, das merkt man auch im Training.“ Am jüngsten Bundesligawochenende trafen Gomez und Wagner für ihre Klubs – genauso Timo Werner.
„Es ist für die Spieler gut, sich gegenseitig ein bisschen hochzuschaukeln“, sagt Thomas Müller, der in der Nationalmannschaft zur Kaste der Unberührbaren gehört, so wie Toni Kroos, Mats Hummels, Jerome Boateng und eigentlich auch Manuel Neuer. Aber selbst auf der Torhüterposition ist durch Neuers anhaltende Verletzungspause noch nichts abschließend geklärt. Gegen Spanien wird Marc-André ter Stegen im Tor stehen, der wahrscheinlich auch die Nummer eins bei der WM wäre, sollte Kapitän Neuer tatsächlich ausfallen. Aber davon geht Löw nach wie vor nicht aus. Er hat sich dieser Tage mit Neuer und den Ärzten ausgetauscht und positive Rückmeldungen erhalten. „Es ist geplant, dass er in dieser Saison noch spielt“, berichtet der Bundestrainer.
Trotzdem: Der Kampf um die Plätze ist auf eigentlich allen Positionen so hart wie vielleicht noch nie. 26 Spieler hat Löw für die Spiele gegen Spanien und Brasilien nominiert – nur 23 werden bei der Weltmeisterschaft dabei sein können. Und mögliche Kandidaten wie Marco Reus, Mario Götze, André Schürrle und der verletzte Neuer sind diesmal gar nicht erst berufen worden. „Die Liste ist natürlich ein bisschen länger“, sagt der Bundestrainer. „Wir haben durch den Confed-Cup noch einmal eine größere Breite bekommen.“
Der Konkurrenzdruck ist eher noch größer geworden. „Das tut uns gut“, glaubt Thomas Müller. „Und für den Trainer ist das eine super Situation.“ Es ist aber auch eine Herausforderung, die richtigen Spieler auszuwählen. Am 15. Mai wird der Bundestrainer seinen vorläufigen Kader bekannt geben, bis zum 4. Juni sind dann noch Änderungen möglich. „Die Leistung steht über allem“, sagt Löw. In seine Bewertung werden allerdings auch die sogenannten Soft Skills einfließen, weiche Faktoren wie Teamfähigkeit, eine gewisse Toleranz und Einfühlungsvermögen. Das ist eine Erkenntnis aus der WM vor vier Jahren, als die Leistungsdichte im Kader nicht ganz so hoch war, viele Spieler dadurch kaum oder gar nicht zum Einsatz kamen – sich aber so verhielten, dass der Gesamterfolg nicht gefährdet wurde. Dieser unglaubliche Spirit habe die Mannschaft 2014 ausgezeichnet, erklärt der Bundestrainer. Tore kann man zählen, ebenso gewonnene Zweikämpfe, überspielte Verteidiger. Für Teamgeist aber gibt es noch keine Datenerfassung. Joachim Löw sagt: „Das Bauchgefühl spielt in der Entscheidungsfindung eine wichtige Rolle.“