Rechte Gewalt: Jede Stufe kostet Kraft
Zwölf Jahre nach dem Angriff eines Rechtsextremen kämpft der schwerbehinderte Orazio Giamblanco immer noch gegen die Schmerzen – und gegen das Alter.
Die Treppe führt in leichtem Linksschwung nach oben. In der Mitte steht ein kleiner, etwas übergewichtiger Mann in orthopädischen Stiefeln. Er atmet schwer und stützt sich mit der linken Hand auf eine Krücke, die Finger rechts umklammern das Geländer. „Orazio, jetzt den rechten Fuß hoch“, sagt eine junge Frau. Als sich der Mann nicht rührt, hebt sie seinen Fuß und schiebt ihn auf die nächste Stufe. „Wir schaffen das“, sagt die Frau. Der Mann zieht die Krücke nach, er zögert, dann hebt er den linken Fuß eine Stufe höher. So geht das weiter, Stufe für Stufe, insgesamt sind es 16 zwischen den zwei Etagen des Zentrums für Physiotherapie in Bielefeld. Der Mann braucht zehn Minuten, bis er oben ist, schwitzend, mit starrem Blick und rotem Kopf. „Heute geht’s gut“, sagt die Frau, „manchmal dauert es doppelt so lange.“
Man könnte die Treppe als Sinnbild der Zustände sehen, die der seit zwölf Jahren schwer behinderte Orazio Giamblanco durchlebt. Eine Zeitlang ging es ein wenig aufwärts, da war er Ende 50, doch inzwischen lassen Giamblancos Kräfte nach. Er ist jetzt 67 Jahre alt, es geht langsam, aber stetig abwärts. Trotzdem gibt er sich nicht auf. Dank der Hilfe zweier Frauen, seiner griechischen Lebensgefährtin Angelica Berdes und ihrer Tochter Efthimia, mit denen Giamblanco in Bielefeld lebt. Jetzt auf der Treppe sind es die Hände von Aleksandra Balcerzewicz, der jungen, aus Polen stammenden Therapeutin mit dem charmanten Lächeln, das einen Mann, erst recht einen Sizilianer wie Giamblanco, animiert.
Und doch bleibt es ein Elend. Am 30. September 1996 schlug in der Kleinstadt Trebbin (Landkreis Teltow-Fläming) der rechtsextreme Skinhead Jan W. seine Baseballkeule gegen den Kopf des damaligen Bauarbeiters Giamblanco. Man sieht keine Narbe, das straff gekämmte, silbergraue Haar wächst darüber. Aber der Baseballschläger hämmert unablässig in Giamblancos Leben, das nie wieder so sein kann wie vor jenem Abend im Spätsommer 1996. Der Italiener leidet unter spastischer Lähmung, das Hirn ist geschädigt, er kann nur mühsam sprechen, ihn quälen Depressionen. Er sieht zu, wie auf der Treppe Männer und Frauen leichtfüßig, in wenigen Sekunden, an ihm vorbei die 16 Stufen hoch und wieder runter laufen. Für Giamblanco ist Hinabgehen noch anstrengender als der Aufstieg. Obwohl Aleksandra Balcerzewicz ihn hautnah begleitet, rutscht er beim Abstieg plötzlich aus und hängt halb im Geländer. Oben bleibt eine Frau stehen und winkt höflich ab, „ich geh’ später runter“.
Im April 1997 hat der Tagesspiegel Giamblancio das erste Mal besucht. Er lag im niedersächsischen Coppenbrügge in einer neurologischen Klinik, nahezu reglos, ohne Lebensmut. Er war dem Tod nur knapp entkommen. Was von seinem Leben übrigblieb, und dem von Angelica und Efthimia Berdes, beschreibt der Tagesspiegel Jahr für Jahr. Als exemplarischen Fall rechtsextremer Gewalt und der lebenslangen Folgen für die Opfer und ihre Angehörigen.
Die Zahl der Menschen in Deutschland, die seit der Wiedervereinigung von Rechtsextremisten misshandelt wurden, kann man nur schätzen: Allein in diesem Jahr waren es bis September mehr als 600. Das ergibt sich aus den Antworten der Bundesregierung auf die monatlichen Anfragen von Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau und ihrer Linksfraktion zum Stand rechtsextremer Kriminalität. Es ist zu vermuten, dass seit der Wiedervereinigung tausende Männer und Frauen von Rechtsextremisten verletzt wurden, ein Teil sehr schwer. So wie Orazio Giamblanco.
Seine Lebensgefährtin Angelica Berdes hat damals ihre Arbeit aufgegeben, um ihn zu pflegen. Die zierliche 56-Jährige kümmert sich mit enormer Energie um Giamblanco, vom morgendlichen Gang zur Toilette über die Begleitung zur Krankengymnastik bis zur Nacht-Unruhe. „Orazio hat häufig Schmerzen“, sagt sie, „jetzt immer stärker im Rücken.“ Giamblanco belastet beim Gehen das rechte Bein mehr als das linke, in dem die Lähmung stärker ist und das von einer Stützschiene gehalten wird. Der jahrelange schiefe Gang strahlt in den Rücken aus, gerade dann, wenn Giamblanco im Bett liegt. „Er schläft immer schlechter“, sagt Berdes. Wenn er nachts stöhnt, holt sie eine Salbe und reibt ihm den Rücken ein.
Die Frau wirkt stark – und ist doch so erschöpft, dass sie selbst Pflege benötigt. Sie lässt sich psychiatrisch behandeln. „Und immer Probleme mit dem Blutdruck“, sagt Angelica Berdes. Ohne ihre Tochter Efthimia hätte sie kaum die Kraft, die Pflege von Orazio durchzuhalten.
Die 34 Jahre alte Efthimia Berdes hilft, so oft es ihr Schicht-Job in einer Schokoladenfabrik zulässt. Die Griechin musste nach dem „Unfall“, wie alle drei die Gewalttat nennen, ihre Lehre in einem Friseursalon abbrechen. Der Chef hatte kein Verständnis für Fehlzeiten, die angesichts der Pflege für Giamblanco kaum zu vermeiden waren. Ihre Freundschaften mit jungen Männern halten nicht lange, weil denen Verständnis für die freizeitraubende Hilfe fehlt, die ein Schwerbehinderter braucht. „Mein letzter Freund wollte, dass ich zu ihm nach Herford ziehe“, sagt Efthimia Berdes, „aber das geht doch nicht. Ich will meine Mutter und Orazio nicht alleine lassen.“ Efthimia Berdes lebt in einer Wohnung neben Giamblanco und der Mutter. Die Miete ist für die junge Frau eigentlich zu hoch, „aber ich kann sofort helfen, wenn was ist“.
Die drei sind dankbar für die jährlichen Spenden der Tagesspiegel-Leser, ohne die Efthimia Berdes vermutlich ihre Wohnung hätte aufgeben müssen. Ohne das zusätzliche Geld wäre auch der sporadische Osterurlaub im Süden, meist bei einem Bruder Giamblancos auf Teneriffa, kaum zu finanzieren. Die Wärme tut Giamblancos Körper gut. Aber zu viel darf es auch nicht sein. Im Sommer sind keine Ferien mehr am Mittelmeer möglich, die Hitze verträgt Giamblanco nicht. Die nächste Osterreise, hofft er, geht noch einmal in seine Heimat Sizilien.
Neben den stärker werdenden Rückenschmerzen und der zunehmenden Schlaflosigkeit belastet ihn auch die schon lange schwelende Auseinandersetzung mit dem Versorgungsamt Cottbus. Die Behörde ist für Giamblanco zuständig, weil der Überfall in Brandenburg geschah. Im Januar 2007 schickte das Amt einen Bescheid, wonach der „Berufsschadensausgleich“ für Giamblanco gesunken ist: „aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung“. Er wurde aufgefordert, eine bereits geleistete „Überzahlung“ von 2100 Euro rückzuerstatten. „Wir waren geschockt“, sagt Angelica Berdes. Der Anwalt der drei legte Widerspruch ein. Das Versorgungsamt bleibt stur.
Im Amt ist eine Frau Wüstehube zuständig. Einen Fehler habe ihre Behörde nicht gemacht, sagt sie dem Tagesspiegel und berichtet von einem Rechner, „der nicht alle Zugangsdaten“ gehabt habe, weshalb der Berufsschadensausgleich für Giamblanco nach Erreichen des 65. Lebensjahres „manuell“ neu habe errechnet werden müssen. Also doch ein Fehler? „Nein“, sagt Wüstehube, gibt dann aber zu: „Wir haben die Bearbeitung nicht zentral zu dem Ereignis gemacht.“ Dann warnt sie: „Je länger die Rückzahlung dauert, desto größer ist die Gefahr, dass Stundungszinsen anfallen.“ Erlassen werde nichts.
Mehr Mitgefühl mit Giamblanco hat ein anderer: der Täter. „Ich wünsche ihm von ganzem Herzen, dass es ihm besser geht“, sagt Jan W., „und den beiden Frauen auch.“ Der 34-Jährige, als Selbstständiger auf Baustellen tätig, hatte sich im Gefängnis von der rechtsextremen Szene gelöst. Zeit zum Nachdenken gab es reichlich, das Landgericht Potsdam hatte W. 1997 zu 15 Jahren Haft wegen versuchten Mordes verurteilt. Als er nachweislich bereute, kam W. frei, inzwischen ist auch die Bewährungsfrist abgelaufen. 2006 entschuldigte er sich in zwei Briefen bei Giamblanco und den Frauen – alle drei haben ihm verziehen. „Das war für mich eine große Beruhigung“, sagt Jan W., „aber ich denke immer noch darüber nach, was ich getan habe.“
Orazio Giamblanco hat die letzte Stufe geschafft. Gebeugt, auf die Krücken gestützt, steht er unten vor der Treppe im Zentrum für Physiotherapie. Ansprechbar ist er jetzt nicht. Als er sich ein wenig erholt hat, stöhnt er, „ich werde alt, es kommt immer schlechter“. Dann sackt er in seinen Rollstuhl. Der Fahrdienst vom Roten Kreuz bringt den erschöpften Mann nach Hause.