Überraschungsteams bei der Fußball-WM: Island ist die Tochter des Mangels
Das 1:1 Islands gegen Argentinien galt als bisher größte Überraschung der WM – dabei war es ein nahezu logisches Resultat. Die Isländer sind viel mehr als die Summe ihrer Einzelspieler.
Es war nicht ganz klar, ob die Frage einfach nur aus Interesse gestellt wurde oder einen leicht genervten Unterton hatte. Jedenfalls wollte ein amerikanischer Reporter von Islands Nationaltrainer Heimir Hallgrimsson wissen, ob es seinen Spielern eigentlich Spaß machen würde, so zu spielen, wie sie das täten. Gemeint war, dass die Isländer bei ihrem 1:1-Unentschieden gegen Argentinien nur etwas mehr als ein Viertel der Spielzeit am Ball gewesen waren. Zum Schluss, als der Gegner sechs Offensivspieler auf dem Platz hatte, traten sie sogar in einer Art Schildkrötenformation an. Mit allen Mann verrammelten sie ihr Tor und kamen nur noch zu Befreiungsschlägen, selber am Ball waren sie da kaum noch. Also: Macht das Spaß bei dieser WM
Hallgrimsson grinste: "Ich glaube, einigen schon." Aber selbst wenn es nicht so sein sollte, die Frage nach dem Spaß stellt sich weder für ihn noch seine Mannschaft. Im Gegenteil, ihre Stärke besteht darin, Dinge zu machen, die die meisten Fußballmannschaften ungern machen. Etwa Standardsituationen zu trainieren oder weniger mit dem Ball zu agieren als gegen ihn zu verteidigen.
Die Mannschaft lebt von einer faszinierenden Mischung
Jorge Valdano, der argentinische Weltmeister und ehemalige Sportdirektor von Real Madrid, der Fußball so wunderbar blumig beschreiben kann, meinte dieser Tage: "Die isländische Mannschaft ist die Tochter des Mangels, eines extremen Klimas und eines Geistes aus Solidarität und Opfer, das ihnen auch jenseits des Fußballs das Überleben erlaubt."
Nun ist das zwar eine ziemliche Überhöhung, andererseits zeigte das Spiel gegen Argentinien, dass Islands Spiel sich wirklich ganz wesentlich aus den Quellen Opferbereitschaft und unbedingtem gegenseitigem Helfen speist. Es gibt nicht viele Mannschaften auf diesem Planeten, die ihre Spiele mit einer solch faszinierenden Mischung aus kühler Ordnung und wilder Entschlossenheit bestreiten.
Den Goldstandard für diesen Mix aus Kollektivität und Härte setzt im internationalen Fußball Atletico Madrid, seit dort der finstre Diego Simeone arbeitet. Aber diese isländische Mannschaft sollten alle Trainer, die in ihrem Kader nicht über ein Übermaß von Talent verfügen, genau studieren. Faszinierend ist vor allem, wie Island es versteht, in ihren Möglichkeiten begrenzte Spieler (um es höflich zu formulieren) mit durchzuziehen.
Mit Birkir Saevarsson etwa boten sie gegen Aguero, Higuain oder Pavon einen Innenverteidiger auf, der als einziger Isländer noch in der heimischen Liga spielt. Auch Hordur Magnusson vom englischen Zweitligist Bristol City, der schusselig den Elfmeter verursachte, den Lionel Messi nicht verwandeln konnte, ist beileibe kein Großmeister des Fußballspiels. Und Rurik Gislason vom deutschen Zweitligisten SV Sandhausen wirkte geradezu eingeschüchtert, als er in der zweiten Halbzeit eingewechselt wurde.
Island hatte Glück, ja - aber es war kein glückliches Resultat
Aber genau das nimmt diese Mannschaft achselzuckend. Die Stars aus der Premier League, Gylfi Sigurdsson vom FC Everton und Johann Gudmundsson aus Burnley, hauten sich erst recht rein, wenn es Lücken zu stopfen gab. Wie auch die Physis dieser Mannschaft selbst die routinierten südamerikanischen Raubeine sichtbar beeindruckte. Zudem hält Island es psychisch gut aus, dem Ball hinterherzulaufen, was beileibe keine Selbstverständlichkeit ist.
Andere Mannschaften erschöpft das, Island nicht. Im Grunde wirkte es im sonnigen Spartak-Stadion so, als würden Island und Argentinien beispielhaft zwei unterschiedliche Enden der Möglichkeiten im Fußballkosmos beschreiben. Der Außenseiter schaffte es, dass das Gesamte zu mehr wurde als die Summe der Einzelteile. Bei Argentinien war es genau andersherum. Der Überfluss an Talent synthetisierte sich nicht zu einem Ganzen, so dass wieder einmal viel zu viel bei Lionel Messi abgeladen wurde.
Ja, die Isländer hatten das Glück, dass ihr Torhüter Hannes Halldorsson den Elfmeter hielt, und durch die letzten 15 Minuten des Spiels wankten sie mit letzter Kraft. Aber das Remis gegen einen der Mitfavoriten auf den Titelgewinn war kein glückliches Resultat, wie es einem unterklassigen Underdog manchmal im Pokal gelingt. Überhaupt: Jenseits aller Folklore und des allgemeinen Niedlichkeitshypes hat Island eine richtig gute Mannschaft. Und Spaß, ihr bei der Arbeit zuzuschauen, macht es übrigens auch.
Christoph Biermann
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