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In Schweden ist Frauenfußball größer als in Deutschland. Die Schwedin Hanna Glas (l.) mit Felicitas Rauch von Turbine Potsdam beim jüngsten Spiel in Solna.
© Joel Marklun/dpa

Über die Entwicklung des Frauenfußballs: "In Deutschland mangelt es noch an Wertschätzung"

Sporthistorikerin Carina Sophie Linne über alarmierende Zahlen für den deutschen Verband in puncto Frauenfußball und Überholmanöver anderer Länder.

Die Sporthistorikerin Carina Sophia Linne hat zur Entwicklung des Frauenfußballs geforscht. Wir haben mit ihr darüber, „Eier und Pferdeschwänze“ sowie Perspektiven eines Traditionsklubs wie Turbine Potsdam gesprochen.

Frau Linne, Sie haben Ihre Doktorarbeit an der Universität Potsdam über den deutschen Frauenfußball geschrieben. In kaum einer anderen Stadt kann man wohl zu dem Thema näher am Puls des Geschehens forschen.
Das war auch einer der Gründe, warum ich nach Potsdam gekommen bin. Gerade, weil ich als Thema den Frauenfußball im geteilten Deutschland im Fokus hatte. Man muss bedenken: In der Bundesrepublik Deutschland war Frauenfußball zunächst verboten, wurde erst 1970 vom Deutschen Fußball-Bund offiziell erlaubt. In der DDR gab es kein Verbot für Frauenfußball – und vor allem Turbine Potsdam brachte den weiblichen Fußball weiter.

Insbesondere dank Bernd Schröder.
Natürlich. Er hat etwas aufgebaut, das dann nach der deutschen Wiedervereinigung riesige Erfolge nach sich zog. Es hat die Stadt geprägt und sie wird das auch lange Zeit in Erinnerung halten.

Als die Sportschule Potsdam 2006 vom Deutschen Fußball-Bund das Gütesiegel „Eliteschule des Fußballs“ für den Mädchenbereich verliehen bekam, zitierte der damalige DFB-Präsident Theo Zwanziger den Boss des Weltverbandes Fifa Sepp Blatter. „Die Zukunft des Fußballs ist weiblich“, hatte Blatter bereits 1995 gesagt. Knapp ein Vierteljahrhundert ist seitdem vergangen. Wie sieht es in der Gegenwart aus?
Auf jeden Fall ist die Entwicklung des Frauenfußballs bis hierhin positiv zu betrachten, weil der Sport sich auf seiner Ebene professionalisiert hat. In vielen Ländern ist Frauenfußball anerkannt, es wurden Strukturen geschaffen, wo die Frauen gute Rahmenbedingungen haben. Aber sie sind immer im Schatten der Männer geblieben.

Welchen Status quo attestieren Sie dem deutschen Frauen- und Mädchenfußball?
Ich denke, er steht vor einem Neuanfang. Lange Zeit war Deutschland eine Frauenfußball-Macht. Aber gerade andere europäische Länder haben stark aufgeholt. Teilweise überholt. In Frankreich, England, Spanien hat sich sehr viel getan. Und wenn dann deutsche Nationalspielerinnen dorthin gehen und begeistert berichten, dass sie von den Bedingungen her mit den Männern ihrer Vereine wie Olympique Lyon und Arsenal London gleichgestellt sind, dann scheint es in Deutschland noch Nachholbedarf zu geben. Aber es soll ja auch hier etwas getan werden. Zum Beispiel sollen in der neuen DFB-Akademie, so meine erste Wahrnehmung, Männer- und Frauenfußball enger miteinander verknüpft werden – auch auf der wissenschaftlichen Ebene, was ich für sehr aussichtsreich halte.

Die Statistiken des DFB zeigen einen insgesamt positiven Trend bei Mitgliederzahlen für Frauen. Aber bei den Mädchen bis 16 Jahren sind seit 2010 rund acht Prozent weniger Aktive und fast 40 Prozent weniger Mannschaften angemeldet.
Das sind alarmierende Zahlen. Da müssen sich die Vereine und Verbände die Frage stellen, wo Versäumnisse liegen. Generell ist es ja in allen Sportarten schwierig, Mädchen über die Zeit bei der Stange zu halten, weil andere Interessen aufkommen oder sich Prioritäten verändern. Dass jedoch schon weniger Mädchen überhaupt begeistert werden, mit dem Fußball anzufangen, ist eine zentrale Herausforderung.

Wie kann man dieser begegnen?
Ein entscheidender Weg führt weiterhin über die Schulen. Dort müssen Vereine und Verbände mit AGs oder ähnlichem aktiv sein. Es ist eine gute Schnittstelle. Zudem ist es unabdingbar, die gesellschaftliche Wertschätzung für Frauenfußball mehr zu stärken. Meiner Meinung nach wird verhältnismäßig viel zu wenig in den Medien über Frauenfußball berichtet – Potsdam hat da durchaus eine Ausnahmerolle. Warum nicht am Sonntag in der ARD-Sportschau ein fester Block zur Frauen-Bundesliga? 15 Minuten – das wäre ein erster Ansatz. Wenn dieser Sport aber öffentlich außerhalb der Welt- und Europameisterschaften kaum ein Thema ist, wie sollen dann Kinder und Jugendliche dafür begeistert werden?

Welche Bedeutung hat die Frauen-Nationalmannschaft – auch im Vergleich zu den Männern?
Sie hat eine hohe Bedeutung, denn sie ist ein Aushängeschild. Aber auch da fehlt es noch an der breiten Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Wenn eine Fußball-WM der Männer stattfindet, weiß dass durch die Berichterstattung nahezu jeder in Deutschland. Dass diesen Sommer die Frauen ihre WM spielen, dürfte eher wenigen bekannt sein, weil es medial nicht so wertgeschätzt wird. Das ist noch ein großer Mangel, der die Gesamtentwicklung hemmt.

Mit dem diese Woche veröffentlichten frechen Werbespot, der Klischees gegenüber Frauenfußball aufgreift, hat die Frauen-Nationalelf auf jeden Fall viel Aufmerksamkeit erzeugt.
Und die Reaktionen darauf sind sehr positiv. Der Spot provoziert – gerade mit dem Spruch „Wir brauchen keine Eier, wir haben Pferdeschwänze“. Das ist zum richtigen Zeitpunkt eine gelungene Aktion, weil nicht plump mit der Thematik umgegangen wird, sondern raffiniert. Diese Werbung spielt mit den Problemen und weckt definitiv Interesse.

Auch Erfolg ist ein Katalysator für Aufmerksamkeit. Beim letzten großen Turnier lief es für Deutschland aber nicht gut. 2017 war mit dem Viertelfinal-Aus bei der Europameisterschaft ein wahrer Tiefpunkt erreicht. Was lehrte dem zuvor Serien-EM-Titelträger dieser Dämpfer?
Es hat ganz klar deutlich gemacht: Andere Nationen haben sich besser entwickelt als Deutschland. Der Versuch, Steffi Jones von der damaligen Chefin des WM-Organisationskomitees zur Bundestrainerin zu machen, ist fehl geschlagen. Nachdem es dann auch in der WM-Qualifikation holperte, wurde reagiert. Als Interimslösung setzte der DFB Horst Hrubesch ein, was ich sehr spannend fand.

Alarmierende Zahlen. Sporthistorikerin Carina Sophie Linne forscht zur die Entwicklung des Frauenfußballs.
Alarmierende Zahlen. Sporthistorikerin Carina Sophie Linne forscht zur die Entwicklung des Frauenfußballs.
© Tobias Gutsche

Warum?
Er schien wie eine Vaterfigur. Einer, der helfen sollte, die negativen Erlebnisse aufzufangen. Das Team konnte sich mit ihm aufrappeln. Für den Moment hat die Lösung sportlich gut funktioniert – die WM-Endrunde wurde erreicht.

Diese findet ab 7. Juni in Frankreich statt – Deutschland wird von der neuen Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg angeführt. Was erwarten Sie vom Team?
Die ersten Eindrücke unter Martina Voss-Tecklenburg sind sehr positiv. Der von ihr betonte Ansatz, ein Team als Einheit zu formen, gefällt mir. Aber die Mannschaft ist insgesamt verjüngt. Daher darf man Geduld haben.

Die Frauen-Bundesliga ist vergangenen Sonntag zu Ende gegangen. Mal wieder holte der VfL Wolfsburg den Titel, ebenso im DFB-Pokal. Wie beurteilen Sie die Attraktivität der deutschen Liga?
Sie liegt im Dornröschenschlaf. Es schlummert ganz viel drin, aber es ist nicht erweckt.

Die Bundesliga galt einst als beste Liga der Welt. Und jetzt?
Wenn die besten Spielerinnen ins Ausland abwandern, kann das nicht mehr der Fall sein. Das Problem hatten die USA auch schon vor einigen Jahren. Das ist einerseits eine Sache des Geldes, denn in anderen Ländern wird mehr investiert. Auf der anderen Seite ist dort eine größere Offenheit gegenüber dem Frauenfußball zu spüren, was für Spielerinnen natürlich reizvoll ist. Beispiel: In Spanien wird am Samstag der letzte Saisonspieltag der ersten Männer-Liga um zwei Stunden nach hinten verschoben, weil die Frauen des FC Barcelona das Champions-League-Finale spielen – das wird gemacht, um den Frauen uneingeschränkt eine große Bühne zu bereiten. So etwas ist Wertschätzung.

Das spiegelt sich auch in den Zuschauerzahlen wider. In Spanien, England und Italien werden – teils durch große Freikartenaktionen – zehntausende Zuschauer zu Frauenspielen in die Stadien gelockt. In der Bundesliga gibt es derartige Riesenevents nicht. Der Besucherdurchschnitt ist vielmehr rückläufig. Diese Saison lag er bei nur 833 Zuschauern pro Partie – weniger waren es zuletzt vor neun Jahren.
Die Aufgabe des DFB ist diesbezüglich weiterhin aktiv zu sein. Aber man kann eben die Menschen auch nicht dazu zwingen, sich Frauenfußball anzugucken. Man kann es nur über das öffentliche Bewusstsein schaffen. Aktionen, Werbung. Es ist die Frage: Wie mutig und engagiert wird der DFB in Zukunft sein?

Lange dominierten die reinen Frauenfußballvereine 1. FFC Frankfurt und Turbine Potsdam das sportliche Geschehen. Inzwischen haben ihnen die finanzstarken Teams aus dem Hause von Männer-Bundesligisten den Rang abgelaufen. Welche Perspektive hat ein Traditionsclub wie Turbine?
Der DFB hat in der Hinsicht das geschafft, was er wollte. Sein Ansinnen war es, in der Bundesliga den Anteil der Frauenteams, die zu Männer-Bundesligisten gehören, zu steigern, um die Professionalisierung voranzutreiben.

Vor zehn Jahren lag der Anteil bei einem Drittel, in der abgelaufenen Saison waren es zwei Drittel.
Und für einen Verein wie Turbine Potsdam, der lange spitze war, aber jetzt nicht diese wirtschaftliche Power wie die Konkurrenz hat, ist das natürlich eine schwierige Situation. Entweder es werden selbst deutlich höhere Sponsoringeinnahmen erzielt oder es muss umgedacht werden, denn ohne mehr Geld dürften ganz große Erfolge kaum noch möglich sein. Dann braucht es eine neue Philosophie.

Wie könnte sie lauten?
Dies könnte sein, sich über die Eigengewächse aus der Jugendabteilung und Neuzugänge mit viel Entwicklungsaussichten zu definieren. Eine Art Ausbildungsverein mit hohem Identifikationspotenzial in der Region zu sein, der dann aber vielleicht damit leben müsste, dass die besten Spielerinnen an einem gewissen Punkt woanders hingehen, um Titel zu holen. Wer sich damit anfreundet, kann dann einen dritten Platz in der Bundesliga als etwas Tolles bewerten – und nicht als das Verpassen von womöglich unrealistisch hoch gesteckten Zielen. Allerdings ist dies aus Leistungssportperspektive am Ende unbefriedigend.

Was machte die Potsdamerinnen einst zur Top-Kraft in Europa? Welche Vorteile hatten sie gegenüber der Konkurrenz?
Turbine Potsdam hat Tradition, schon zu DDR-Zeiten baute Bernd Schröder mit den Gegebenheiten gute Strukturen auf. Vom System der Kinder- und Jugendsportschulen profitierte der Verein ebenfalls ein stückweit – er bildete darüber eigene Spielerinnen aus, die zum Weltklasseformat reiften. Und egal, wie groß die regelmäßig personellen Umbrüche im Kader waren, wurde bei Turbine mit Cleverness immer wieder eine gut zusammenhaltende und kämpferische Mannschaften geformt. Diese Leidenschaft war ein Erfolgsfaktor.

Bernd Schröder führte den Verein 45 Jahre lang. Manch einer meint, er sei zu spät abgetreten, sodass Turbine nicht rechtzeitig die Weiche Richtung Zukunft gestellt hat.
Aus sporthistorischer Betrachtung wird Bernd Schröder immer eine Sonderrolle einnehmen. Er ist eigene Wege gegangen und hat dabei stets über den Tellerrand geschaut. Wie das zeitlich einzuordnen ist, möchte ich an dieser Stelle nicht bewerten. Er hat in jedem Fall für Potsdam sein Bestmögliches gegeben, den Frauenfußball weiterzubringen und Erfolg zu generieren.

Sie waren im Brandenburger Landesverband Mitarbeiterin für den Bereich Frauen und Mädchen. Was die Mitglieder- und Mannschaftszahlen anbelangt floriert die Mark nicht unbedingt. Worin bestehen die Schwierigkeiten?
Brandenburg hat mit seiner Fläche ein großes Problem. Es fällt wegen der fehlenden Ballung schwer, dort die Teams für Mädchen und Frauen aufzubauen beziehungsweise zu halten. Der Verband kämpft aufgrund der großen Entfernungen im Land immerzu darum, einen Spielbetrieb zu ermöglichen, der hinsichtlich der Fahrten halbwegs erträglich ist. Mehrfach wurde der Modus schon angepasst. Der Verband müht sich mit Aktionen, neue Mitglieder zu werben, hat aber das generelle Manko wie in anderen Ländern und Sportarten: Es ist schwer, die Leute zu gewinnen, die sich dann ehrenamtlich um die Spielerinnen kümmern, trainieren und betreuen. Da braucht es durch übergeordnete Institutionen mehr Förderung des Ehrenamtes, um es attraktiver zu machen.

Lassen Sie uns noch einmal den Spruch von Sepp Blatter aufgreifen und in die Zukunft schauen. Wie wird es in einem weiteren Vierteljahrhundert um den Frauenfußball stehen?
Ich sage: Die Zukunft des Fußballs bleibt weiblich. Der Satz von Sepp Blatter lässt sich schließlich vor allem in Bezug auf das Potenzial interpretieren. Schon um einiges ist der Frauenfußball seit seinen richtigen Anfängen nach dem Zweiten Weltkrieg vorangekommen, aber es ist eben auch noch viel mehr möglich, was ausgeschöpft werden kann. Ein Buch über den Frauenfußball trägt den Namen: „Der lange Weg zur Anerkennung“. Dieser hält weiterhin an – und die Frauen dürfen sich auch gerne immer wieder freispielen.

Tobias Gutsche

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