Ultramarathon: Immer an der Wand lang
Ultraläufer haben den 160 Kilometer langen Berliner Mauerweg als Rennstrecke entdeckt. Ihnen geht es nicht nur um den Sport sondern, auch um die Geschichte der Rundroute.
Wenn rechts die Gropiusstadt in den Himmel ragt und der Blick nach links schweift, wo man schon ins Brandenburgische schaut, bekommt Grit Seidel Gänsehaut. „Das ist ein Teil meiner Geschichte“, erzählt die gebürtige Sächsin, die heute in Charlottenburg lebt. Die 42-Jährige vom LG-Nord Ultra Team trainiert regelmäßig auf dem Mauerweg. Zwei Mal ist sie ihn schon in voller Länge abgelaufen. 160 Kilometer am Stück, 100 Meilen deutsch–deutsche Geschichte.
„Wir sind keine Geschichtswissenschaftler im Trauerflor“, sagt von Alexander von Uleniecki von der LG Mauerweg, Die Geschichte laufe immer mit.Im August 2011, zum 50. Jahrestag des Mauerbaus, feierte die Langstreckenlaufgemeinschaft (LG) Mauerweg mit den „100 Meilen Berlin“ Premiere. Als Testlauf hatten sie 2010 bereits die erste Mauerweg-Tour veranstaltet, bei der die Strecke in drei Etappen aufgeteilt wird. Beide Rennen waren Erfolge für das Team. Bei den 100 Meilen etwa starteten 92 Teilnehmer, für 2013 haben die Veranstalter bereits Startplätze aufstocken müssen. Dieses Jahr luden sie wieder zur Variante mit drei Etappen. Am vergangenen Freitag, pünktlich zum Jahrestag des Mauerfalls, startete die zweite „Mauerweg-Tour“.
Aus dem Organisationsteam entwickelte sich ein regelmäßiger Lauftreff, der zwei Mal im Monat am Mauerweg trainiert. So sind die Veranstalter immer über den Zustand des Weges und eventuelle Baustellen informiert.
Die Gastgeber teilen ihr Wissen gerne. Bei der Vorbesprechung zur Mauerweg-Tour am vergangenen Wochenende wies von Uleniecki die erwartungsfrohen Läufer nicht nur auf Störungen im Straßenverkehr hin. „Die Angst vor den Säuen ist unberechtigt“, beruhigte er die Ängstlichen unter den Ultraläufern beim Briefing. „Mauerwegläufern passiert nie etwas.“ Mit „den Säuen“ meinte er die Wildschweine, die den Wettkämpfern auf der zweiten Etappe des Rundkurses von Wannsee nach Henningsdorf im Grunewald über den Weg hätten laufen können.
Am Ende bewahrheitete sich diese Einschätzung. Von 71 gestarteten Läufern kamen 50 am Sonntagnachmittag in Kreuzberg ins Ziel. Keiner von ihnen hatte sich gegen Wildschweinattacken wehren müssen. Jin Cao, der für den Lauf aus Oslo angereist war, sagte trotzdem: „Wir haben den wilden Teil Berlins gesehen.“ Ihm gefiel die Seen- und Waldlandschaft im Südwesten Berlins besonders gut.
Samstagmorgen war das Feld in Kreuzberg gestartet, von dort aus ging es zur East Side Gallery, im Rechtsbogen am Südende der Stadt entlang bis zum Wannsee, wo die Läufer abends im Hostel einen Vortrag von Mauerweg-Initiator Stephan Cramer hörten. Denn die Mauerweg–Tour ist mehr als eine Sportveranstaltung. Die Veranstalter vom LG Mauerweg sorgen nicht nur mit Spekulatius und Obsttellern für die Läufer. Von Uleniecki füttert die Teilnehmer auch mit Informationen über Grenztürme, Gedenkstätten und Museen entlang der Strecke.
Für das nächste Jahr ist eine Schüler-Mauerweg-Tour geplant. Zwei Schulklassen sollen von verschiedenen Startpunkten aus jeweils 7,5 Kilometer auf dem Mauerweg entlanglaufen. Auf dem Weg zum gemeinsamen Zielpunkt an der Gedenkstätte Bernauer Straße müssen sie Fragen zur deutsch-deutschen Geschichte beantworten. „Wir sehen uns in der Pflicht, die Erinnerung bei der jungen Generation wachzuhalten“, sagt Alexander von Uleniecki.
Jin Cao jedenfalls fliegt nach dem langen Laufwochenende begeistert zurück nach Oslo. „Wir haben in Berlin mehr gesehen als jeder Tourist“, findet er.