Sport: „Ich wollte nie Bundestrainer werden“
Mönchengladbachs Coach Jupp Heynckes über Klinsmann, Löw und moderne Fußballphilosophie
Herr Heynckes, haben Sie schon mit Joachim Löw gesprochen, seitdem er Bundestrainer ist?
Er hat mich vor anderthalb Wochen angerufen, und wir haben eine Weile miteinander gesprochen. Dass Löw Bundestrainer geworden ist, ist eine sehr gute Lösung. Das Training hat er bisher schon gemacht, und die Öffentlichkeitsarbeit wird ihm auch keine Probleme bereiten. Er ist ja ein intelligenter junger Mann.
Sie galten auch einmal als eine Art Bundestrainer in Reserve. Haben Sie dieses Amt jetzt endgültig abgeschrieben?
Man hat mir den Job einige Male angeboten, aber ich habe ihn nie gewollt.
Warum nicht?
Richtig erklären kann ich das auch nicht. Vielleicht lag es daran, dass der deutsche Fußball international keine große Rolle gespielt hat. Es wird auch jetzt nicht so einfach, wie sich das viele vorstellen. Man kann nicht davon ausgehen, dass Jogi Löw in zwei Jahren automatisch Europameister wird. Wir Bundesligatrainer stehen jedenfalls in der Pflicht, Löw zu unterstützen. Meine Unterstützung hat er. Total.
Empfinden Sie so etwas wie Dankbarkeit für Jürgen Klinsmann? Er hat gezeigt, dass man mit jungen Spielern erfolgreich sein kann, wenn man seine Ideen umsetzen darf.
Das war auch immer mein Bestreben. In Gladbach haben wir gerade vier Spieler aus der zweiten Mannschaft zu uns hochgeholt. Überhaupt gibt es in Deutschland wieder viele Talente, die es wert sind, dass man sich intensiv mit ihnen beschäftigt. Den letzten Schliff müssen sie von den Profitrainern bekommen. Dazu gehört viel kreative Arbeit, viel Führung auch in sozialer Hinsicht. Das ist eine Sisyphosarbeit, zu der nicht alle meine Kollegen bereit sind. In Gladbach meinen die Leute jetzt auch: Jetzt kommt Jupp Heynckes, und in sechs Wochen spielen wir einen ganz anderen Fußball. Das geht nicht. Ich kann keine Wunder wirken.
War es dann nicht vermessen von Klinsmann, Weltmeister werden zu wollen?
Klinsmann hat die Gunst der Stunde genutzt. Die WM im eigenen Land ist normalerweise ein Selbstläufer. Mit dem Publikum im Rücken sind viele Spieler über sich hinausgewachsen. Hinzu kam, dass Klinsmann an die Spieler geglaubt hat. Das hat er perfekt durchgezogen. Es ist nicht so einfach, wenn man ein 1:4 in Italien vor der WM positiv darstellen will.
Oliver Bierhoff hat gefordert, dass die Bundesliga von Klinsmann lernen müsse. Haben Sie sich angesprochen gefühlt?
Ich habe ja lange in Spanien gearbeitet, und da ist vieles, was Klinsmann gemacht hat, schon seit Jahren Usus. Als ich 1992 Trainer in Bilbao wurde, hatte Johan Cruyff in Barcelona schon drei Assistenten, einen für Technik, einen für Taktik und einen für Standardsituationen. Bei Real Madrid haben neun Physiotherapeuten für uns gearbeitet. Oder nehmen Sie den Teamgeist. Dass der ganz wichtig ist, habe ich immer schon propagiert. Klinsmann hat das jetzt wieder neu aufgelegt. Völlig zu Recht. Wenn du einen Stinkstiefel in der Mannschaft hast, der alles hintertreibt, funktioniert es nun mal nicht.
Braucht eine Mannschaft nicht manchmal einen Stinkstiefel?
Nein, sie braucht vielleicht einen Opportunisten. Jemanden, der auf dem Fußballfeld auch mal ein Drecksack ist.
Stefan Effenberg galt als Stinkstiefel.
Das sehe ich anders. Effenberg war Opportunist. Natürlich war er unbequem, er hat Fehler gemacht, und er hat auch erst seine Identität auf dem Platz finden müssen. Aber als er reifer war, hat er vieles für die Mannschaft getan. Nachher ist Effenberg ein richtiger Stratege geworden.
Bei der WM hat der Teamgeist über den Individualismus gesiegt. Haben Sie sonst etwas Überraschendes entdeckt?
Man bekommt als Trainer immer wieder Anregungen. Im aktuellen Topfußball sind die Mannschaften nicht nur in der Motivation ausgereizt, sie befinden sich auch physisch in absoluter Topverfassung. Jede Mannschaft wusste, wenn sie in Rückstand gerät, hat sie das Spiel verloren.
Bei der EM vor zwei Jahren wurde noch die Renaissance des Offensivfußballs ausgerufen, jetzt hat wieder die Defensive dominiert. Wiederholt sich im Fußball alles nach einer bestimmten Zeitspanne?
Ich glaube, dass es immer wieder einen anderen Zeitgeist gibt, der einen entsprechend modifizierten Fußball hervorbringt mit den dazu passenden Spielertypen. Im deutschen Fußball ist im Moment Torsten Frings der Spieler, der genau in unsere Zeit passt. Man hat ihn immer ein bisschen unterschätzt. Er hat ein solides fußballerisches Rüstzeug. Aber unter den aktuellen Voraussetzungen, mit seiner unwahrscheinlichen Power, seiner Kraft und Kondition wird er plötzlich ein wesentlich besserer Fußballer.
Mit Gladbach wollen Sie offensiv und attraktiv spielen. Stehen Sie damit nicht im Gegensatz zur gültigen Philosophie?
Moment, wir reden jetzt vom internationalen Spitzenfußball. In der Bundesliga kann man auch mit Offensivfußball noch etwas erreichen. Das beste Beispiel ist Werder Bremen. So weit sind wir in Mönchengladbach aber noch lange nicht. Wir müssen erst wieder Strukturen aufbauen, ein klares Konzept entwickeln, ein Spielsystem definieren und dafür eine Mannschaft zusammenstellen.
„Spieler, deren Bewegungsfreiheiten bis ins kleinste Detail vorgeschrieben werden, können im Spiel kaum selbstständig und frei entscheiden, wie es die ständig sich verändernden Situationen verlangen.“ Wissen Sie, von wem dieser Satz stammt?
Nein, keine Ahnung.
Hört sich an wie Jürgen Klinsmann 2006, ist aber Jupp Heynckes 1981.
Da können Sie mal sehen: Ich habe auch schon mal was Kluges gesagt. Auf dem Feld haben meine Spieler – in dem vorgegebenen taktischen System – alle Freiheiten. Aus der Intuition muss man Fußball spielen, deshalb gefallen mir ja auch solche großartigen Fußballer wie Zidane. Wenn der Ball sprechen könnte, würde er Zidane eine Liebeserklärung machen.
Sie arbeiten jetzt seit fast 30 Jahren als Trainer. Wie groß ist Ihr Drang, sich noch zu hinterfragen und sich zu ändern?
Sehr groß – weil der Fußball sich ständig ändert. Oder der Umgang mit den Spielern. Dieses Thema wird immer wichtiger. Wie gehe ich mit Menschen um, die unter immensem Druck Höchstleistungen bringen müssen? Der Trainer sollte den Druck von den Spielern nehmen, ihn zumindest nicht erhöhen. Also musst du darauf achten, dass du die Spieler positiv kritisiert, sie in der Öffentlichkeit nicht im Regen stehen lässt und keine Späße auf ihre Kosten machst. Die heutige Generation kann damit nicht gut umgehen.
Woher nehmen Sie Ihre Erkenntnisse?
Aus dem täglichen Leben, aus Gesprächen mit anderen Menschen, mit Freunden, aus dem, was ich lese, höre, sehe. Man kann auch von anderen Sportarten lernen.
Gibt es einen fachlichen Austausch zwischen Bundesligatrainern?
Nein. Als junger Trainer habe ich mal eine Trainertagung mit lauter Koryphäen erlebt: Hennes Weisweiler, Ernst Happel, Branko Zebec, Udo Lattek. Ich habe da lange mit Ernst Happel über Fußball philosophiert. Das war wunderbar. Hennes Weisweiler war mein Trainer, er hat mich als Fußballer geprägt, aber von Happel habe ich mir als Trainer vermutlich am meisten abgeschaut. Happel war der Erste in der Bundesliga, der mit Abseitsfalle gespielt hat, mit vorgezogener Abwehrkette, mit Pressing im Mittelfeld, mit Raumdeckung. Wenn wir gegen den HSV gespielt haben, habe ich vorher Happels Spielsystem studiert. Ich habe gelesen, was er gesagt hat, wie er es gesagt hat.
Müsste es für Bundesligatrainer die Möglichkeit zur Weiterbildung geben?
Ich fürchte, dass viele Trainer in der Liga das nicht für notwendig halten. Die beste Weiterbildung ist eigentlich ein Wechsel ins Ausland. In Spanien, England, Italien, inzwischen auch Frankreich kann man sehr viel lernen. Das ist natürlich nicht einfach, weil die Spanier nicht gerade auf deutsche Trainer warten.
Was haben spanische Trainer den deutschen voraus?
Die Anforderungen sind viel größer. Die Trainer bei Real Madrid überlassen nichts dem Zufall. Da können Sie heute noch nachlesen, was die zweite Mannschaft an einem bestimmten Tag im Mai vor fünf Jahren trainiert hat. Zuletzt habe ich eine Ausarbeitung aus meiner Zeit in Bilbao gefunden, zehn Seiten mit Zeichnungen zu Eckbällen, Freistößen, taktischem Verhalten. Das alles habe ich in Spanien kennengelernt und in meine Arbeit eingebaut. Hier in Gladbach lasse ich jetzt die Trainingseinheiten filmen.
Gibt es eigentlich Übungen, die Sie früher gemacht haben, von denen Sie heute denken: Mein Gott, wie konntest du nur?
Da ich selbst Spieler war, habe ich immer darüber nachgedacht, was macht den Spielern Spaß und wie kann ich Spaß mit Effizienz verknüpfen? Es gibt eigentlich nichts, von dem ich sage: Das geht heute nicht mehr. Aber vieles ist modifiziert worden. Du machst zum Beispiel die gleiche Übung wie vor 20 Jahren, aber auf kleinerem Raum, weil du im heutigen Fußball nicht mehr so viel Platz und so viel Zeit hast wie früher. Das muss alles schneller gehen.
Das Gespräch führte Stefan Hermanns.
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