Ex-Radprofi Jens Voigt zur Tour de France: "Ich hoffe, dass die Tour eine Initialzündung ist"
Der frühere Radprofi Jens Voigt über den Tour-Start, die Chancen der deutschen Fahrer und den neuen Umgang mit Doping.
Herr Voigt, die Tour de France ist in Düsseldorf gestartet. Was bedeutet das für den Radsport in Deutschland?
Ich hoffe, dass die Tour eine Initialzündung ist, damit der Radsport in Deutschland wiederbelebt wird. Damit wir auch aus der Dopingecke herauskommen und eine neue Chance bekommen. Ich erinnere mich noch an meine letzte Frankreich-Rundfahrt als Fahrer. Damals ging es in England los. Das halbe Land stand an der Strecke und die andere Hälfte hat am Fernsehen zugesehen. Das war ein Riesenspaß für alle. Diese Atmosphäre und Leidenschaft erhoffe ich mir auch für Düsseldorf.
Sie sind mit 17 Teilnahmen an der Tour de France Rekordhalter. War das die Quälerei wert?
Der Sport war nicht nur ein Job für mich, sonst machst du das nicht so lange. Aber Radfahren ist natürlich auch hart und körperlich gefährlich. Ohne Stürze geht das nicht ab. Ich glaube, ich habe elf gebrochene Knochen, 25 Schrauben und Nägel im Körper und insgesamt 120 Stiche – wo ich überall genäht worden bin! Dazu kommt das viele Training und die entsprechende Ernährung. Trotzdem musst du das mit Liebe machen, sonst bringt es nichts. Und das habe ich.
Was ist Ihre schönste Erinnerung?
Ich bin insgesamt 340 oder 345 Tour-Etappen gefahren, also fast ein Jahr meines Lebens. Da einen Moment herauszugreifen, wäre fast unfair. Aber als Carlos Sastre aus meinem Team die Tour 2008 gewonnen hat und wir auch als komplettes Team in Paris angekommen sind, war das schon besonders. Du stehst an einem schönen sonnigen Nachmittag auf dem extrabreiten Siegerpodest, vor dir die gesamte Weltpresse und hinter dir der Triumphbogen. Da habe ich gedacht: Eigentlich müssten wir jetzt alle aufhören. Es kann nicht mehr besser werden, als vor einer Million Menschen hier zu feiern.
Ein Jahr später sind Sie dann bei der Tour schwer gestürzt. Da hätten Sie dann ja theoretisch auch wieder aufhören können.
Nein. Ich wollte auf keinen Fall als derjenige in Erinnerung bleiben, der nach seinem Sturz aufgehört hat. Ich hätte mich wie ein Feigling, wie ein Verlierer oder Versager gefühlt. Glücklicherweise hat meine Frau damals auch erkannt, wie sehr das an mir genagt hat. Sie hat mich sehr in meiner Entscheidung bestärkt, weiterzumachen. Weil sie erkannt hat, dass ich sonst unglücklich gewesen wäre. Es gibt ja auch viele Beispiele, wo genau das eingetreten ist, weil die Leute zu früh aufgehört haben. Und deshalb war für mich immer klar, dass ich alles aus mir herausquetsche und so lange weiterfahre, bis jede einzelne Zelle meines Körpers schreit: ‚Hör endlich auf!’ Deshalb habe ich heute auch null Sehnsucht nach einem Comeback.
Ist es generell schwer für einen Berufssportler, den Job aufzugeben und sich neu zu orientieren?
In den ersten sechs Monaten nach meinem Karriereende habe ich jegliche sportliche Aktivität verweigert, die mich auch nur im Geringsten zum Schwitzen gebracht hätte. Es hilft natürlich, wenn du eine intakte Familie hast. Denn als Leistungssportler kann es passieren, dass du im Leben danach in ein Loch fällst. Eben haben noch eine Million Leute deinen Namen geschrien und jetzt? Dazu kommt der ganz normale Alltag, den man erst einmal meistern muss. Das kannte man in seinem bisherigen Profi-Umfeld ja gar nicht, weil einem da alles abgenommen wurde. Darauf musst du dich vorbereiten, und das habe ich auch schon während meiner Karriere getan.
Oft hilft auch, sich einer neuen sportlichen Herausforderung zu stellen.
Das stimmt. Ich habe für mich das Laufen entdeckt und betreibe das auch ziemlich exzessiv. Gerade vor ein paar Tagen bin ich in Kalifornien meinen eigenen privaten Marathon gelaufen. Immer fünf Kilometer vom Auto weg und wieder zurück. Dazwischen dann was trinken, wieder los und fünf Kilometer in die andere Richtung. Das Laufen ist für mich so eine Art Selbstfindungstrip.
USA, Spanien, Italien und Thailand – in den vergangenen Wochen vor der Tour waren Sie permanent unterwegs. Es scheint fast so, als wären Sie noch seltener zu Hause als früher.
Tatsächlich sind es noch zwei, drei Wochen weniger. Ich bin 200 Tage im Jahr weg und 165 zu Hause. Ich befinde mich eigentlich permanent im Jetlag, weil ich immer nur ein paar Tage weg bin.
Hatten Sie sich denn Ihren Sportler-Ruhestand so vorgestellt?
Ich hatte eher Angst, dass ich keinen Job finde und wir vielleicht unser Haus verkaufen müssen. Dass ich jetzt Arbeit habe und meinen früheren Rennstall berate, bedeutet ja auch, dass ich noch begehrt bin – und Geld verdiene. Entgegen landläufiger Meinung bin ich nämlich weit davon entfernt, Millionär zu sein. Ich will mich nicht beschweren, aber ich habe eben auch immer in Deutschland gelebt und hier Steuern gezahlt – nicht irgendwo in der Schweiz oder Monaco. Und sechs Kinder großzuziehen, kostet natürlich auch ein, zwei Euro.
Wie muss man sich das Leben im Hause Voigt in Berlin denn so vorstellen? Erzählen Sie da häufiger mal Anekdoten aus ihrer Radsportkarriere oder machen einen Familien-Videoabend mit Ihren persönlichen Rennhöhepunkten?
Ach was. Das interessiert die Kinder gar nicht. Auch wenn aktuell im Fernsehen Radsport gezeigt wird, kann ich mich da nicht durchsetzen.
Aber 2010, als Sie auf einer Tour-Etappe dem Feld mit dem Kinderfahrrad hinterhergejagt sind, muss das doch zu Hause der Renner gewesen sein?
Ganz ehrlich? Meine Kinder wissen sehr wenig über meine Karriere. Wenn ich beim Spazierengehen erkannt werde und ich denen dann erkläre, dass ich ein bisschen berühmt bin, dann wundern die sich eher und fragen: ‚Wie kannst du denn berühmt sein? Du bist doch nur Papa’.
Das bedeutet, dass es auch keinen Nachfolger aus dem Hause Voigt im Radsport geben wird?
Mein Sohn Julian ist mal fünf Jahre lang gefahren. Der Radsportler in mir hat sein Talent erkannt. Sein Tritt war schön rund und ausbalanciert. Aber irgendwann ist er dann zu mir gekommen und hat gesagt: ‚Du Papa, am Sonntag um sechs Uhr aufstehen, zwei Stunden zu einem Rennen fahren, dort dann warten, bis ich dran bin und erst um 19 Uhr wieder zu Hause sein – das will ich nicht mehr’.
Alles, was einen Radfahrer schneller macht, kann andere Sportler auch schneller machen
Grundsätzlich scheint die Bereitschaft bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland abgenommen zu haben, für eine Karriere im Sport alles zu geben.
Dieses Problem haben alle westlichen Länder. Die Kinder von heute wollen zwei Wochen vorsingen und dann Superstar sein und sich nicht acht Jahre quälen, um vielleicht einmal bei der Tour de France zu starten. Dazu geht es ihnen einfach auch zu gut. Es gibt tausend andere Möglichkeiten, sich zu beschäftigen. Und in der Schule heißt es dann oft auch noch, dass es nicht ums Gewinnen geht, sondern ums Mitmachen. Daraus können die Kinder dann auch keine Motivation ziehen. Vielleicht sind auch die Eltern insgesamt viel zu besorgt, was natürlich einschränkt. Ich kenne das ja von mir selbst.
Und dann kommt natürlich auch das Thema Doping dazu – inzwischen ist das ja längst nicht mehr nur auf den Radsport beschränkt. Wie haben Sie die Enthüllungen in anderen Sportarten wahrgenommen?
Man ist fast ein bisschen schockierend belustigt. So nach dem Motto: Ehrlich, das habt ihr nicht erwartet? Man muss ja nur mal logisch denken: Alles, was einen Radfahrer schneller macht, kann andere Sportler ja auch schneller machen. Verstehen Sie mich nicht falsch, der Radsport hat völlig zu Recht in der Schusslinie gestanden. Wir haben Riesenfehler gemacht und sind das Problem lange Zeit nicht entschlossen genug angegangen. Ich hätte aber gedacht, dass nicht nur der Radsport davon lernt, sondern alle anderen Sportarten auch.
Die aktuelle Fahrergeneration geht deutlich offensiver mit dem Thema um. Ist das der Weg in Richtung glaubwürdiger Radsport?
Auf jeden Fall. Die machen das so gut, sie sind transparent und öffentlich zugänglich für jeden. Klar ist das richtig. Denn nur so wird Vertrauen aufgebaut.
Was trauen Sie den Deutschen denn bei der aktuellen Tour zu?
Ich hoffe, dass Tony Martin das Zeitfahren zum Auftakt gewinnt und im Gelben Trikot auf die zweite Etappe geht. Dann hoffe ich, dass sowohl André Greipel, Marcel Kittel als auch John Degenkolb vielleicht nicht zu weit weg sind von Tony und sich mit einem Etappensieg das Gelbe Trikot holen können. Danach ist es mir dann fast egal, um die Gesamtwertung kann kein Deutscher mitfahren, und das wird sich auch im nächsten Jahrzehnt nicht ändern.
Neben den deutschen Fahrern in verschiedenen internationalen Mannschaften gibt es mit Sunweb und Bora-Hansgrohe auch zwei deutsche Teams im Feld. Leider ohne die großen deutschen Stars.
Das stimmt, aber Peter Sagan bei Bora – das ist schon ein Kracher. Und er hat die ganze Mannschaft auf einen Schlag zu einem Topteam gemacht. Das freut mich, weil es ein deutsches Team ist – auch wenn da jetzt vielleicht nicht die großen Namen aus dem eigenen Land dabei sind.
Und wer kann Christopher Froome im Kampf um den Gesamtsieg zumindest gefährden oder vielleicht sogar schlagen?
So lange Froome nicht vom Fahrrad fällt oder einen riesigen taktischen Fehler macht, sehe ich nicht, wie er geschlagen werden kann. Er ist mindestens genauso gut, wenn nicht besser als alle anderen im Zeitfahren und am Berg. Und er hat eine Mannschaft, in der sich alles nur auf ihn konzentriert. Persönlich sehe ich Richie Porte auf dem zweiten Platz und dahinter einen Kampf um den dritten Platz mit Alberto Contador, Alejandro Valverde und Nairo Quintana. Quintana hat aber mit dem Giro d’Italia in den Beinen meiner Meinung nach keine Chance auf den Gesamtsieg.