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Geht doch! Diese Hürde überquerte unser Autor noch locker. Am Ende aber strauchelte er.
© Kitty Kleist-Heinrich

Unser Zehnkampf vor der Leichtathletik-EM: Hürdensprint: Hochmut kommt vor dem Schmerz

Unser Autor tut sich schwer beim Hürdenlauf. Im letzten Versuch überwindet er seine Ängste - und wird prompt dafür bestraft. Teil zwei unserer Serie.

Laufen, springen, werfen – die Disziplinen der Leichtathletik sind Sport in seiner klassischsten Form. Doch sie sind schwieriger auszuüben, als sie aussehen. Bis zur Europameisterschaft vom 7. bis 12. August in Berlin probieren wir in unserer Serie „Tagesspiegel-Zehnkampf“ zehn Disziplinen unter professioneller Anleitung aus und beschreiben, worauf es dabei ankommt.

Willi Mathiszik hebt im altehrwürdigen Mommsenstadion schon von Weitem die Hand zum Gruß. Warum erkennt er mich von der Ferne, obwohl wir beide uns noch nie vorher begegnet sind? Sieht er bereits, dass ich der sportfremde Besucher bin? Liegt es an meinen dünnen, muskelentpackten Beinen, an meiner gebeugten Haltung, meinem steifen Gang oder meiner Adidas-Sporthose, die ihren 20. Geburtstag auch schon ein paar Jahre hinter sich hat?

Willi Mathiszik hat einen anderen Körper. Der 34-Jährige hat ein breites Kreuz und kräftige Beine. Mathiszik war noch bis vor fünf Jahren Leistungssportler – einer der besten Hürdenläufer Deutschlands. Nun ist er Leichtathletik-Landestrainer in Berlin. Das Hürdenlaufen, so der Plan, soll er mir in einer Stunde beibringen.

Sein Händedruck ist fest, Mathiszik fragt: „Was weißt du vom Hürdenlaufen?“ Ich denke an Edwin Moses, den Ausnahmeathleten aus den USA, und an Harald Schmid, den Deutschen mit dem Schnäuzer. Die beiden lieferten sich großartige Duelle in den 80er Jahren. Ich denke an Florian Schwarthoff, der häufig, wenn es drauf ankam, an einer Hürde hängenblieb. Und ich denke auch daran, dass ich im Schulsport komischerweise nicht ein einziges Mal Hürdenlaufen musste. Also sage ich: „Ich weiß nichts vom Hürdenlaufen.“

Mathiszik hat mit der Antwort offenbar gerechnet. Er sagt schnell: „Das ist kein Problem.“ Die Moderatorin Palina Rojinski sei neulich aus dem gleichen Grund bei ihm gewesen. „Sie konnte danach Hürdenlaufen“, sagt er. Sein Blick wandert kurz über meinen Körper, dann fragt er: „Können wir das auch?“

Können wir das? Kann ich das? Kann ich nach all den Jahren – die Schulzeit und damit mein letztes leichtathletisches Engagement endete 1998 – mich noch einigermaßen sportlich über eine Tartanbahn bewegen? Mathiszik schickt mich zum Warmmachen auf die Bahn. „Mach’ mal ein oder zwei Runden“, sagt er. Ich mache eine. Kaum bewege ich mich, kommen die Erinnerungen. Ich war gut im Sport, aber auf der Tartanbahn war jedes Mal ein Unbehagen da. Entweder war es die Aufregung vor dem Start über die Sprintdistanz oder es war die Angst vor den Leiden, die über die Mitteldistanzen 800 oder 1500 Meter folgen würden.

Ich merke nach einer halben Runde, wie die Muskulatur hart wird und die Beine schwer werden. Mir wird klar, dass man auf der Tartanbahn mit fast 40 nicht mehr in der Mitte des Lebens steht. Meine Bewegungen haben im Vergleich zu den anderen auf der Bahn etwas Greisenhaftes. Auf dem Weg zu Mathiszik komme ich an einem Trainer vorbei, der eine junge Sportlerin mit den Worten anfeuert, dass sie endlich aggressiver sein solle. „Denk’ an deinen Ex-Freund“, ruft er ihr laut zu. Mathiszik ist umgänglicher mit mir. „Sehr gut“, sagt er, „wir machen jetzt ein paar Stabilisierungsübungen.“

Männer müssen im Sprint 107 Zentimeter Hürden überqueren

Anschließend geht er mit mir den Ablauf durch: Längere Schritte am Start, dann kürzere vor der Hürde, mit links abspringen, das rechte Bein hoch nach vorne strecken und – am schwierigsten – den Oberkörper nach vorne durchdrücken. Wir machen es ein paar Mal ohne Hürden. Nach einer Viertelstunde sieht es gut aus, behauptet Mathiszik. Ich glaube ihm nicht.

Dann steht er mit einer Hürde vor mir. Sie ist verdammt hoch. „Das sind exakt 107 Zentimeter“, sagt Mathiszik. „Diese Höhe überqueren die Männer über die Sprintdistanz.“ Dann schraubt er die Hürde weit runter, auf circa 85 Zentimeter. „Frauenhürde“, sagt er trocken. Ich merke an, dass die Männer im Vergleich zu den Frauen eine unverhältnismäßig hohe Hürde überqueren müssen. Mathiszik stimmt mir zu, zumal die Männer im Gegensatz zu den Frauen über ihren Körperschwerpunkt kommen müssten. „Das sind im Grunde zwei verschiedene Disziplinen“, sagt er. Er blickt auf die Frauenhürde, dann auf mich und verstellt die Hürde ein ordentliches Stück nach unten.

Es kann losgehen. Ich habe nach den theoretischen Einlassungen und den Phantomsprüngen sogar Lust drauf. Mathiszik weiß, wie er mich kriegt: „Wir haben alles besprochen. Du schaffst das.“ Kein Gefühl von Unbehagen mehr, plötzlich Hochmut. Ich kann es noch. Attacke. Ich renne los, erst längere Schritte, dann kürzere. Ich springe mit links ab und strecke meinen rechten Fuß nach vorne. Ich überquere die Hürde. Ja! Mitten im Leben auch auf der Tartanbahn. Der Blick wandert schnell rüber zu Mathiszik. Aber was macht er? Er schüttelt den Kopf und sagt: „Das war gar nicht so schlecht, aber der Oberkörper muss nach vorne und nicht nach hinten.“ Ich weiß genau, was das übersetzt heißt: Das war Mist und du hast die Hosen voll.

Mathiszik erklärt: „Die Abwehrhaltung ist ganz natürlich. Da ist ein Gegenstand vor einem und da stürzt man sich nicht freiwillig hinein.“ Genauso ist es, ein Hindernis will mit gebotener Vorsicht überquert werden. Auch beim Hürdenlauf. So lese ich bei Wikipedia auch über meinen Trainer Mathiszik, dass er sich bei einem Trainingsunfall schwere Verletzungen zugezogen hat. Ich will nicht nachfragen, was genau passiert ist.

Ich habe noch einen Versuch. Mathiszik sagt: „Jetzt geh voll rein, voll nach vorne. Du kannst das.“ Der Zuspruch, weil in dieser Form völlig ungewohnt, schlägt voll durch. Ich will es ihm und mir zeigen. Das Hindernis macht mir keine Angst. Ich gehe voll rein, drücke den Oberkörper nach vorne – knalle mit meinem Fuß voll gegen die Hürde und kann einen Sturz gerade noch verhindern. Mein linkes Bein schmerzt, aber ich tue so, als wäre alles okay. Mathiszik kommt auf mich zu, klatscht sich mit mir ab und sagt: „Etwas zu spät dran, aber ansonsten sehr gut.“ Ich gehe schnell in die Umkleiden, ziehe mich um und humpele Richtung Stadion-Ausgang. Aus der Ferne hebt Mathiszik die Hand zum Abschiedsgruß.

Bisher erschienen: Dreisprung

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