Bundesliga-Dino in der Dauerkrise: Hoffentlich steigt der Hamburger SV diese Saison ab!
Unser Autor hält seit seiner Jugend zum Hamburger SV. Aus Liebe wurde irgendwann Hoffnung – es folgte Lethargie. Und jetzt ist es nicht mal mehr das.
Am Sonntag haben sie wieder mal den Trainer entlassen. Bernd Hollerbach soll nun den HSV retten. Ein Schleifer, ein Zügelanzieher, eine Art moderner Felix Magath. Als Spieler trug er den Spitznamen Holleraxt und sein Motto lautete: „An mir kommt entweder der Gegner vorbei oder der Ball, aber niemals beide.“ Geholt hat ihn Sportdirektor Jens Todt. Ein Mann, der auch nach Niederlagen gerne sagt, dass er „im Großen und Ganzen“ mit der Leistung der Mannschaft zufrieden sei.
Nach der jüngsten Heimpleite gegen den Tabellenletzten aus Köln konstatierte er: „Wir hatten ein Eckenübergewicht.“ Über ihm, auf der Tribüne, sitzt weiterhin der Vorstandsvorsitzende Heribert Bruchhagen. Der findet, im Großen und Ganzen, dass zu viel über den HSV gespottet wird. „Wir sind kein Chaosklub“, verkündete er vor der Winterpause, und die Hamburger Morgenpost analysierte: „Seine Ruhe tut dem Verein gut.“ Meine Freunde, die nichts mit dem HSV und dieser Reality-Soap zu tun haben, fragen mich seit Jahren: „Wann steigt ihr endlich ab?“ Früher habe ich gelächelt und irgendetwas von „Dino“ oder „Für immer erste Liga“ gefaselt. Heute, im Januar 2018, antworte ich: „Hoffentlich diese Saison!“
Wie konnte es nur soweit kommen?
Vermutlich bin ich gar kein Fan mehr. Eher ein Katastrophentourist. Ein Voyeur, der sich am Elend ergötzt. Ein Passagier in der Achterbahn des Grauens. Ich besuche im Internet immer noch die Sportseiten der Hamburger Tagespresse. Ich bin in diversen HSV-Whatsapp-Gruppen aktiv und lese die Mitgliederzeitung „Supporters News“. Am Wochenende schaue ich mir das Bundesligaspiel des HSV auf Sky an. Manchmal fahre ich nach Hamburg, sitze dann im Volksparkstadion und staune. Über mich, der 60 Euro für ein Sitzplatzticket unterm Dach ausgegeben hat. Und über das, was auf dem Rasen geschieht. „Mit Fußball hat das nicht viel zu tun“, sagte einer der vielen Ex-Trainer des Vereins mal. Irgendwann 2017 oder 2015 oder 2014 war das, man verliert ja ein wenig den Überblick. Jedenfalls ging's auch damals gegen den Abstieg, natürlich. Es waren, im Rückblick, weise Worte. Es war eine klare Ansage. Es war die Wahrheit.
Ich habe die große Ära des HSV nicht erlebt. Die erste Schüler-Dauerkarte kaufte ich mir 1990, drei Jahre nach dem Gewinn des DFB-Pokals, dem letzten Titel der Vereinsgeschichte. Es war eine aufregende Zeit, wild und neu und bunt, auch wenn es eigentlich bieder und farblos war. Das Stadion sah aus, als hätte es jemand aus einer gottverlassenen sowjetischen Trabantenstadt herausgetrennt, eine Betonschüssel neben einer Müllverbrennungsanlage.
Der HSV verlor vor 10.000 Zuschauern gegen Wattenscheid, er gewann gegen Bayer Uerdingen, und alle paar Jahre gab’s mal ein Unentschieden gegen die Bayern. Die alten Fans pfiffen, schimpften, und vermutlich fragten sie sich: „Wo sind Hrubesch und Kaltz? Und wer sind Matysik und Bode?“, während in der Halbzeitpause die Countryband Truck Stop im Mittelkreis den Soundtrack zum Untergang spielte: „Take it easy, altes Haus“. Der Verein war das geworden, was Bochum in den Achtzigern gewesen war: eine graue Maus. Aber im Grunde war es, zumindest für einen jungen Fan, vollkommen okay so. Es war ehrliches Mittelmaß.
Niemand kann heute so recht sagen, wann die Scheiße angefangen hat. Vielleicht ging es wirklich schon 1987 los, als der Trainer-Dämon Ernst Happel den HSV verließ. In den Jahren danach legte sich die goldene Vergangenheit dunkel und bleiern über den Volkspark. Zwischendrin ein paar Lichtblicke, nach denen man in Hamburg glaubte, man sei wieder wer. Im September 2000 ein 4:4 in der Champions-League-Gruppenphase gegen Juventus Turin. Der Trainer, Frank Pagelsdorf, weinte vor Freude, und wir tobten durch den Block, als wären wir auf einem Punkkonzert. Die totale Ekstase, aber auch Sinnbild: Ein Unentschieden gilt als der größte Erfolg der jüngeren Vereinsgeschichte.
Die beste Saison der vergangenen fünf Jahre spielte der HSV 2014/15, er wurde Zehnter
Es heißt, der Norddeutsche sei reserviert und liebe das Understatement. Moin, muss ja, und zum Abschied ein kurzes Nicken. In Hamburg ist das anders. Dort posaunen Radiosender jeden Morgen über den Äther, dass man in der schönsten Stadt der Welt lebe. Der HSV passt perfekt zu dieser Nabelschau, und diese Großmannssucht ist einer der vielen Gründe für den Niedergang. Jeder Neuzugang verkündet im vorauseilenden Gehorsam, dass der HSV ein „großer Verein“ sei, und als die Fußballabteilung vor vier Jahren ausgegliedert wurde, hieß der Slogan „Aufstellen für Europa“.
Der ehemalige Sportdirektor Dietmar Beiersdorfer, den die Presse einst als „Dukaten-Didi“ gefeiert hatte, stattete mittelmäßige Spieler mit aberwitzigen Millionen-Verträgen aus. Auch heute noch darf sich jeder HSV-Profi, der mal ein paar passable Pässe gespielt hat, über hochdotierte Langzeitengagements freuen. Die meisten Spieler kommen aus dem Stall von Berater Volker Struth. Einige werden von dem Unternehmer Klaus-Michael Kühne finanziert. Ein Multimillionär und Edelfan, der sich 2012 für eine Rückkehr des gealterten und verletzungsanfälligen Rafael van der Vaart stark machte. Der unbedingt Alen Halilovic, den vermeintlichen „Mini-Messi“ aus Barcelona, beim HSV sehen wollte. Der den 14-Millionen-Euro-Transfer von Filip Kostic unterstützte. Bruno Labbadia, damals Trainer des HSV, hätte lieber solide Bundesligaprofis verpflichtet, auch ein paar defensive Kicker, die zu seiner Idee und in das Mannschaftsgefüge passten. Aber Beiersdorfer und Kühne winkten ab.
Die beste Saison der vergangenen fünf Jahre spielte der HSV 2015/16, er wurde Zehnter. Europa war in Sichtweite, so der Tenor. Nur ein paar Kritiker mahnten: „Hört die Signale!“ Denn auch in jener Saison war die Mannschaft nur knapp dem Abstieg entronnen. Ähnlich war es zu Beginn dieser Spielzeit. Zwei glückliche Siege in Folge, eine Nacht stand der HSV auf Platz eins der Tabelle. Europa? Aber klar doch! Heute weiß man: Der HSV liegt nicht mal mehr auf der Intensivstation, wie einige behaupten, er wird nicht künstlich am Leben gehalten. Er ist längst tot. Und ich schaue ihn weiter an.
2014 musste der HSV gegen Fürth das erste Mal in die Relegation. Ich saß während des Rückspiels in einer Flughafenbar vor einem Fernseher. Als Heiko Westermann in der Schlussphase im eigenen Fünfmeterraum über den Ball trat, zitterte ich am ganzen Körper, und der Kellner war drauf und dran, den Krankenwagen zu rufen. „Hätte nicht gedacht, dass mir das noch so nah geht“, schrieb ich in die Whatsapp-Gruppe.
Ein Jahr später die Relegation gegen den KSC. „Sollen sie absteigen, interessiert mich nicht“, schrieb ich diesmal. Aber war es mir egal? In der 91. Minute schrie ich den Namen von Marcelo Diaz über den Hinterhof, und ein Nachbar fragte vom Fenster aus: „Sind wir schon wieder Weltmeister?“ Als Luca Waldschmidt den HSV vergangenen Mai vor der Relegation rettete, schrie ich nicht mehr. Ich ballte kurz die Faust, dann schaltete ich den Fernseher aus.
Ich habe diesem Klub fast alles verziehen. Aber irgendwann wurde aus Liebe Hoffnung, und aus Hoffnung Lethargie. Am Samstagabend, als Simon Terrode das 2:0 für Köln erzielt hatte, wünschte ich mir, der HSV würde direkt nach dem Abpfiff absteigen. Am besten direkt in die Regionalliga. Nie zuvor wirkte der Verein so deplatziert. Verkrustet in alten Werten und antiquierten Strukturen. Ein Fossil aus einer anderen Zeit, ohne Perspektive, ohne Zukunft. Ein Klub wie Oliver Pocher, überholt und bemitleidenswert, im Schatten einer modernen, jungen und smarten TV-Show-Generation, mit Pointen, die schon in den Neunzigern nicht mehr lustig waren.
Ob ich rückfällig werde? Sicher werde ich das erst am Saisonende wissen, wenn Fiete Arp alleine auf das gegnerische Tor zuläuft und den HSV zumindest für ein weiteres Jahr aus der Scheiße holen kann.
Bis dahin: Take it easy, altes Haus.