Drehkreuz für Fans: Hauptbahnhof Hannover: Hier steigt der Fußball um
Jedes Wochenende wird der Hauptbahnhof Hannover zu Deutschlands größtem Drehkreuz für Fans aus allen Ligen – manche rauschen friedlich durch, andere prügeln sich mit der Polizei.
Um 23 Uhr ist auch für Dirk-Hinrich Haar Feierabend. Nach vierzehn Stunden. „Wir sind mit der Situation insgesamt gut zurechtgekommen“, sagt er. Gerade hat der Regionalexpress aus dem Ruhrgebiet mit den Fans von Hertha BSC an Bord den Hauptbahnhof Hannover verlassen. Ruhig blieb es während des fünfminütigen Aufenthaltes, die Berliner Fans wirkten noch wie unter Schock nach der Niederlage in Schalke. Nur ein Fan zeigte Haar und seinen dreißig Kollegen, die Bahnsteig 9 abgesichert haben, provozierend am Zugfenster den nackten Hintern. Harmlos. Das hat der 29 Jahre alte Polizeirat heute schon anders erlebt. Haar war am Samstag Einsatzleiter am Hauptbahnhof. Hier, wo 250 000 Menschen täglich ankommen, abfahren oder durchreisen. Unter den Reisenden: wieder mehr als 8000 Fans. Der Bahnhof in Hannover ist nahezu Woche für Woche Fußball-Drehkreuz – und Hochsicherheitszone. 300 Beamte waren am Samstag im Einsatz.
Bahnhöfe gelten, neben den Stadien und ihrem Umfeld, als zweite Randalezone an Spieltagen. In der abgelaufenen Saison mussten bundesweit 95 000 Beamte der Bundespolizei 746 000 Einsatzstunden beim Fan-Reiseverkehr leisten. Bei 612 Gewaltdelikten wurden 416 Menschen verletzt. Am Bahnhof Hannover, mit 35 000 Arbeitsstunden weit vorne, kam es zu 100 Fußball-Einsätzen. Oft mit Körperverletzung oder Sachbeschädigung. Dazu gehört auch Pyrotechnik, die im Zug gezündet wird. Manchmal werden vom Ausmaß der Gewalt selbst Haar und seine Kollegen überrascht. Im Januar erst gingen in Hannovers Bahnhofshalle 120 Bremer und Erfurter plötzlich aufeinander los, später prügelten sich noch Erfurter und Kölner. Fünf Polizisten wurden verletzt. Die Randalierer hatten sich übers Internet am Bahnhof verabredet.
Auch vergangenen Samstag stand besonders das Nordderby des VfL Wolfsburg gegen Werder Bremen im Fokus. Mehr als 2000 Werder-Fans reisten über Hannover und mussten hier umsteigen. Dazu kamen der Sonderzug der Hannoveraner nach Leverkusen, die Berliner Fans waren auf der Schiene, die Bielefelder reisten mit einem 420-Mann-Entlastungszug nach Babelsberg, der in Hannover hielt. Zudem waren Mainzer auf dem Weg nach Hamburg, und in Liga vier trat Holstein Kiel bei Hannover 96 II an. Nur 50 Kieler Fans – doch sie sollten viel Ärger machen. Aber der Reihe nach.
Frühmorgens im Büro der Bundespolizei. Am Tisch sitzen neben Einsatzleiter Haar auch Schichtleiter Edgar Strauß und der szenekundige Beamte Jörg Canisius. „Das wird ein brisanter Tag“, sagt Haar. Auf einem Monitor sind die Fanströme dargestellt. Es gibt rote, gelbe und grün eingefärbte Verbindungen – das ist die Risikoeinteilung für die Spiele und die Fans, die mit der Bahn fahren. Dieser Plan ist die einzige Konstante, denn mehrfach müssen Daten wie Ankunftszeiten und das jeweilige Gleis geändert werden. Der Tag beginnt um 8.03 Uhr. Die Herthaner reisen durch. Das verläuft unproblematisch, auch weil die Polizei ein Auge zudrückt: Im Zug werden zwei Berliner ausfällig, eine Plexiglasscheibe geht zu Bruch – die beiden dürfen dennoch weiterfahren. „Es gibt Grenzen, aber wir wollen die Fans nicht gängeln“, sagt Haar.
Kurz nach 10 Uhr: Der Sonderzug der Hannover-Fans nach Leverkusen fährt ab. Einige Polizisten stehen am Gleis, in den Zug steigen nur zwei zivile Beamte ein. Es herrscht eine friedliche Stimmung. Die sogenannten Entlaster sind weitgehend unproblematisch, weil die Fans unter sich bleiben. „Am liebsten hätten wir nur Sonderzüge“, sagt Strauß. „Das würde uns die Arbeit erleichtern.“ Doch oft hört er von Fans, ganz offen: So ein Regionalexpress ist spannender. Da könne man sich produzieren – und provozieren. So reisen heute gerade 120 Bremer mit dem bereitgestellten Sonderzug an – der Rest wählt die Abenteuervariante.
"Wir können uns nicht weigern, sie mitzunehmen."
Diese Werder-Fans verursachen schon früh Ärger. Sie randalieren im Zug, zehn Minuten Verspätung ist die Folge. Das ist ein Problem, der Anschlusszug wäre weg, wenn die Fans durch den Bahnhof geschleust werden müssten. In der Leitstelle der Bundespolizei nimmt Edgar Strauß Kontakt zur Bahn auf: „Könnt Ihr den Zug von Gleis 13 auf 10 verlegen? Dann müssen die nur den Zug am selben Bahnsteig wechseln. Sonst habt Ihr 250 Ultras im Hauptbahnhof, die eine Stunde haben.“
Die Bahn stimmt zu – die Bremer müssen nur wenige Meter zurücklegen. Das ist angesichts des Aggressionspotenzials auch gut so. Als die Fans den Zug verlassen, bietet sich ein Bild der Zerstörung: Glasscherben, Müll, kaputte Leuchtstoffröhren – und eine eingetretene Wagendecke. „Fußballfans sind oft schlimm“, sagt Görmez Bedri, „aber das heute ist eine richtige Sauerei.“ Die Reinigungskraft ist heute überfordert. Eine Bahnmitarbeiterin nimmt die Schäden auf und stellt fest: Der Zug kann nicht weiterfahren. Ein Mitreisender schimpft: „Man fühlt sich wie auf der Müllhalde. Diese Fans haben kein Benehmen.“ Eine Sprecherin der Bahn drückt es so aus: Man finde das auch nicht gut, „aber wir können uns nicht einfach weigern, sie mitzunehmen“.
36 Beamte haben sich im Zug der Bremer auf den Weg nach Wolfsburg gemacht. Bald sind alle Toiletten verstopft, es stinkt. Viele Fans rasten aus, als die Polizei den harten Kern nur ganz langsam und kontrolliert in den Bahnhof entlassen will. Einige versuchen, die Absperrlinie der Beamten zu durchbrechen. Es kommt zu Schlägereien, auch der Beamte mit der Videokamera wird attackiert. Gut möglich, sagt Haar, dass nach der Auswertung des Filmmaterials noch Anzeigen geschrieben werden: „Damit müssen die Fans leben.“ So, wie die Beamten einiges ertragen müssen. „Bullenschweine!“ So tönt es immer wieder über den Bahnhof. „Wir können was einstecken, weil Fußball auch Emotion ist“, sagt Dieter Crone, ein Zugführer der Bereitschaftseinheit der Bundespolizei, „wir hören oft weg. Aber aufs Übelste beleidigen und angreifen lassen wir uns nicht. Dann schreiten wir ein.“
Das bekommen um 12.33 Uhr die Fans von Holstein Kiel zu spüren. Rund 30 von denen, die anreisen, gelten als gewaltbereit und Gewalt suchend. Weil bei ihnen im Zug auch noch ein Häuflein Werder-Fans sitzt, das die Beamten zuerst aus dem Zug lassen, staut sich unter den zehn Minuten eingesperrten Kielern Frust auf. Sie stürmen auf den Bahnsteig, schlagen um sich – Pfefferspray kommt zum Einsatz. Erst dann beruhigt sich die Lage. Der Tross zieht unter Bewachung – fast auf jeden Kieler kommt ein Beamter – weiter. Zum Regionalliga-Fußball.
Während Mainzer und Bielefelder geräuschlos durchreisen, bereiten sich Haar und seine Kollegen auf die Rückreisewelle vor. „Je später der Tag, desto problematischer wird es oft“, sagt Haar. „Der Alkoholpegel steigt, hinzu kommt oft Frust nach Niederlagen – und das bekommen wir zu spüren.“ Zuerst reisen die Kieler zurück. Mit einem 3:1-Sieg. Die Fans sind gut gelaunt. Und verlassen Hannover friedlicher, als sie gekommen sind. 19.12 Uhr: Der Regionalexpress aus Wolfsburg mit den Bremer Fans rollt ein. Wieder kommt es zu Rangeleien mit Polizisten, als diese zur Abfahrt drängen. Um 22 Uhr kehrt der Sonderzug aus Leverkusen zurück. Hannover hat verloren, die Fans feiern trotzdem noch in der Bahnhofshalle.
Dann, zum Abschluss, noch der Zug mit den Hertha-Fans. Feierabend. „Früher haben wir viele Fan-Reisezüge nur mit eine Doppelstreife abgesichert“, sagt Schichtleiter Strauß. „Heute unvorstellbar. Die Fußball-Einsätze werden immer gefährlicher.“ Am nächsten Sonnabend werden wieder 300 Beamte am Hauptbahnhof Hannover im Einsatz sein. Sie alle sehnen die Fußball-Sommerpause herbei.