Leichtathletik-EM: Goldenes Generatiönchen
So viel Talent hat es über 100 Meter bei den deutschen Frauen schon lange nicht mehr gegeben. Das liegt nicht nur an Gina Lückenkemper.
Uli Kunst ist am Montag im Berliner Tiergarten unterwegs. Die Sonne scheint dem 67-Jährigen ins Gesicht. „Es ist ein guter Tag“, sagt Kunst. Aber ein perfekter ist es nicht. Das liegt an der Ungeduld seiner Begleitung. „Es ist wie mit einem wilden Pferd, das endlich aus der Box muss“, sagt Kunst. Er spricht von Gina Lückenkemper, Deutschlands derzeit schnellste Frau. An diesem Dienstag beginnen für Lückenkemper und ihren Trainer Kunst die Europameisterschaften in Berlin. Am Montagabend ging es los mit den Ausscheidungen für die Halbfinalläufe, für die Lückenkemper und auch ihre deutsche Kollegin Tatjana Pinto vorzeitig qualifiziert waren. Die Neuköllnerin Lisa Marie Kwayie schaffte am Montag als Erste ihres Vorlaufs in 11,30 Sekunden den Sprung ins Halbfinale. Das Finale findet am Dienstagabend um 21.30 Uhr statt.
Dass drei deutsche 100-Meter-Sprinterinnen bei den EM-Ausscheidungsläufen dabei sind und eine davon – Lückenkemper – sogar Medaillenchancen hat, erscheint auf den ersten Blick eher semi-spannend. Zumal eine Goldmedaille wegen der stark favorisierten Britin Dina Asher-Smith sowie der Schweizerin Mujinga Kambundji nicht in Reichweite erscheint. Tatsächlich aber kann man im deutschen Frauen-Sprint ohne Übertreibung von einem Paradigmenwechsel sprechen. So viel Talent und so schnelle Zeiten hat es über 100 Meter bei den deutschen Frauen schon lange nicht mehr gegeben. Lückenkemper und Kwayie sind erst 21 Jahre alt. In die gleiche Generation fallen auch Jessica-Bianca Wessolly (21) und Keshia Kwadwo (19), die in der Staffel am Sonntag zum Einsatz kommen könnten. Auch in diesem Rennen könnte eine Medaille für Deutschland herausspringen.
Eine Geschichte von Sehnsucht, Triumph und großer Enttäuschung
Die Deutschen und der Sprint, es ist dies eine Geschichte von Sehnsucht, Triumph und großer Enttäuschung. Geweckt wurde die Sehnsucht 1936 im Berliner Olympiastadion, als der afroamerikanische Sprinter Jesse Owens vor den Augen Adolf Hitlers der Konkurrenz davonraste. Die Deutschen feierten in der populärsten Disziplin der Leichtathletik große Erfolge. Armin Hary lief als erster Mensch die Distanz in handgestoppten zehn Sekunden. Und die Läuferinnen aus der DDR spurteten in den siebziger und achtziger Jahren in Dimensionen, die – wie sich später herausstellen sollte – auch wegen anaboler Steroide erreicht wurden. Mit dem Ende der DDR, dem Ende des übersteigerten Klassenkampfes auf der Bahn, war im deutschen Sprint die Luft raus.
Doch das alles ist lange her. „Wir haben jetzt zumindest ein Goldenes Generatiönchen“, sagt Kunst. „Da können wir uns bei den Mamas und Papas und den guten Genen bedanken.“ Aber es ist nicht nur das Glück mit den Genen, das den deutschen Frauen-Sprint auf ein neues Niveau hob. „Wir haben einen ganz anderen Stand als noch vor zehn Jahren“, sagt Kunst. Vor zehn Jahren noch arbeiteten die Sprinterinnen und ihre Heimtrainer in der Regel strikt für sich allein. „Das ist inzwischen ganz anders“, erzählt Kunst. „Wir tauschen uns aus, wollen voneinander profitieren, miteinander statt gegeneinander zu arbeiten.“
Robert Harting: "Die hat einen guten Blick. Die will."
Überhaupt sind die Einheiten, die die Sportlerinnen betreuen, im Laufe der Jahre immer größer geworden. „Das sind inzwischen richtige Kompetenzteams. Experten aus den verschiedensten Bereichen bringen ihr wissenschaftliches Knowhow ein. Athletiktrainer, Psychologen, Biomechaniker und, und, und“, sagt Kunst. So machte Lückenkemper auch wiederholt mit den skurrilen Methoden des Neurowissenschaftlers Lars Lienhard Schlagzeilen. Der lässt sie zum Beispiel an Batterien lecken, um bestimmte neuronale Prozesse zu aktivieren.
Mit Lückenkemper trainiert der Diplomsportlehrer Kunst das größte Talent. Im vergangenen Jahr lief sie bei der WM in London als erste Deutsche seit 26 Jahren unter elf Sekunden über die 100 Meter. Anschließend sagte sie: „Deutscher Sprint ist geil.“ Und die deutsche Leichtathletik-Überfigur Robert Harting hatte schon vor ihrer persönlichen Rekordzeit erkannt: „Die hat einen guten Blick. Die will.“
Lückenkemper will auch in Berlin. Zwei Medaillen sollen es werden. Doch das wird schwer. Und das Schöne aus deutscher Sicht ist, dass sie sich auch vor der deutschen Konkurrenz hüten muss. „Wenn Tatjana gut drauf ist, wird das ordentlich brutal“, sagt Lückenkemper über Tatjana Pinto, die zuletzt vor allem in der Halle starke Zeiten gelaufen war. „Der Heimvorteil“, sagt Pinto, „kann viel mit einem machen.“
Darauf hoffen nun die vielen deutschen Leichtathletik-Fans in Berlin. Und wer weiß, vielleicht werden diese Europameisterschaften noch zur Katharsis des deutschen Sprints.
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