"Ofsayt" - Die Fußballkolumne aus der Türkei: Gezi-Park ist überall – auch im Fußballstadion
Auch die Krawalle im Istanbuler Derby zwischen Besiktas und Galatasaray haben einen politischen Hintergrund. Im Zentrum steht der Erdogan-kritische Fanclub "Carsi", der sich zu Unrecht an den Pranger gestellt fühlt. Nun wird über Gefängnisstrafen und Restriktionen debattiert.
Seit den schweren regierungsfeindlichen Unruhen vom Juni gibt es in der Türkei fast kein Thema mehr, das nicht irgendwie mit den Demonstrationen in Zusammenhang gebracht wird, die damals im Istanbuler Gezi-Park ihren Anfang nahmen. Das brutale Vorgehen der Polizei gegen die Demonstranten hat viele Menschen abgestoßen – auf der anderen Seite des Grabens ist die Regierung Erdogan überzeugt, dass ihre Gegner mit Mitteln der Straßengewalt versuchen, sie aus dem Amt zu jagen. Auch der Fußball ist Teil dieser Spannungen, besonders seit dem vergangenen Wochenende.
Beim Istanbuler Derby zwischen Besiktas und Galatasaray gab es schwere Ausschreitungen: Hunderte Besiktas-Fans stürmten das Spielfeld, die Begegnung wurde in der 92. Minute abgebrochen. An sich ist es kein Geheimnis, dass es auch in türkischen Stadien hin und wieder Aktionen von Hooligans gibt. Aber diesmal ist es anders. Denn es geht um den legendären Besiktas-Fanclub „Carsi“, der politisch links steht und der sich im Juni mit der Protestbewegung gegen Ministerpräsident Erdogan verbrüderte. Seit dem Beginn der neuen Saison machen die „Carsi“-Mitglieder immer in der 34. Minute eines Spiels mit Schlachtrufen gegen Ankara auf sich aufmerksam: 34 ist das Autokennzeichen von Istanbul. Der Regierung ist das nicht entgangen.
Deshalb ist das türkische Oppositionslager überzeugt, dass die Fan-Gewalt vom Wochenende angezettelt wurde, um „Carsi“ unter Druck zu setzen, künftig möglicherweise von Besiktas-Spielen fernhalten oder ganz auflösen zu können. Die Regierung wolle sich wegen der Gezi-Unruhen an „Carsi“ rächen, erklärte Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu. Die Oppositionszeitung „Cumhuriyet“ titelte: „Komplott gegen Carsi.“ Der Fanclub solle als gewalttätig hingestellt werden.
Als Beweise für diese mutmaßliche Verschwörung führen die Regierungsgegner Fernsehbilder an, die belegen sollen, dass die Ordnungskräfte beim Derby nicht einmal versuchten, die Randalierer von der Erstürmung des Spielfeldes abzuhalten. Die Anschuldigen richten sich gegen den rechts-nationalistischen Besiktas-Fanclub „Adler von 1453“, dessen Name auf die osmanische Eroberung von Istanbul im 15. Jahrhundert anspielt.
Nun solle „Carsi“ die Schuld für die Gewalt in die Schuhe geschoben werden, sagen Erdogan-Gegner. Dabei hätten die Mitglieder des linken Fanclubs im Stadion auf Plätzen weit entfernt vom gewalttägigen Geschehen gesessen. „Sie hätten Flügel gebraucht, um auf das Spielfeld zu kommen“, schrieb der Kolumnist Mehmet Baransu in der unabhängigen Tageszeitung „Taraf“. Dennoch hätten Regierungspolitiker und regierungsnahe Medien eine Kampagner gegen „Carsi“ gestartet. Tatsächlich werfen einige Politiker der Erdogan-Partei den Regierungsgegnern vor, mit den Tumulten vom Wochenende für neue Unruhen „geprobt“ zu haben.
Der Fußballverband fordert Gefängnisstrafen für die Spielfeld-Erstürmer, und die Regierung denkt laut über verschärfte Vorschriften in den Stadien nach – wobei die Opposition überzeugt ist, dass es dabei um den Versuch geht, die regierungsfeindlichen Schlachtrufe der Fans zu verbieten. Besiktas wird für mindestens fünf Heimspiele ohne Zuschauer bleiben. Doch das Problem – die schweren innenpolitischen Spannungen in der Türkei – wird auch nach dieser Sperre weiter bestehen bleiben. Mit Sport, Leistung und Begeisterung für das „beautiful game“ hat das alles nichts mehr zu tun.