Turnfest in Berlin: Geliebter und gehasster Turnvater Jahn
Friedrich Ludwig Jahn brachte in der Hasenheide einst Tausende zum Sport. Heute ist der Gründer der Turnbewegung umstritten – und lockt zum Fest in Berlin auch Versprengte vom rechten Rand an.
Das Gras auf der Wiese duftet, aber auch jenes, das die Dealer unter der Woche in der Hasenheide in Berlin selbst rauchen. Gerd Steins läuft über das Feld, seine Schirmmütze hat er wegen der blendenden Sonne nach unten geschoben. „Hier sind die von den Nazis gelegten Steine zum Andenken an ihn“, sagt er. „Hier war der Hauptplatz. Und hier muss er gestanden und über 1000 junge Männer angeleitet haben.“ Steins spricht von einer der bekanntesten und sicher auch umstrittensten Figuren der deutschen Geschichte: von Friedrich Ludwig Jahn, dem Volksmund vor allem bekannt als der Turnvater, als derjenige, der das Turnen nicht nur in Deutschland, sondern in der Welt begründete. Jahn tat das hier, in der Berliner Hasenheide, einem Ort, der heute für vieles steht, sicher aber nicht für Körperertüchtigung mit deutschnationalem Ansinnen.
Genauso steht das Turnen, dessen größte Veranstaltung – das Internationale Deutsche Turnfest – in diesen Tagen in Berlin stattfindet, nicht mehr für Jahn. Das Turnen hat sich schon sehr lange von seinem Schöpfer emanzipiert, vielleicht sogar distanziert. So findet von den unzähligen Veranstaltungen rund um das Turnfest nur eine Erinnerungsfeier an Jahn statt. Was auffällt: Die Feier am kommenden Mittwoch in der Hasenheide wird ausgerichtet von der Jahn-Gesellschaft und unterstützt durch den Wiener Akademischen Turnverein (WATV). Der Deutsche Turner-Bund (DTB) als der Veranstalter des Turnfestes schmückt sich dagegen nicht mehr mit Jahn. Von DTB- Offiziellen würde das keiner laut sagen: Aber die Turner schämen sich sogar ein bisschen für ihren Vater.
Gerd Steins kann das nicht verstehen. Er ist kein Apologet Jahns, aber er sagt auch: „Warum soll man die Verdienste des Turnvaters negieren?“ Steins blickt auf die Graffiti am Sockel des großen Jahn-Denkmals in der Hasenheide. „Das ist ein Ort des Vandalismus, ein Ort des Drecks“, sagt er. „Wenn man das Geschmiere entfernt, ist es spätestens zwei Wochen später wieder da.“
1811 eröffnete Jahn in der Hasenheide den ersten Turnplatz
Wer diesen Ort, dieses Andenken beschmutzt, der beschmutzt auch ein wenig Steins. Es gibt kaum jemanden, der mehr weiß über Jahn und die Hasenheide als er. Der Sporthistoriker, Jahrgang 1949, beschäftigt sich seit mehr als drei Jahrzehnten damit. Auch auf seine Initiative hin hat der Berliner Turnerbund sogar die Turngeräte von damals, aus der Frühphase des 19. Jahrhunderts, nachbauen lassen. Steins wollte sie in einem Freilichtmuseum in der Hasenheide dauerhaft ausgestellt sehen. Es scheiterte am Geld, und vielleicht auch daran, dass man sich schwertut mit dem Andenken an den Turnvater. Dabei ist Jahn nach Goethe und Schiller derjenige, nach dem hierzulande die meisten Straßen benannt sind. Der Umgang mit Jahn und die Deutung seines Schaffens werden ambivalent gesehen. Die Deutschen wissen bis heute nicht, ob sie den Turnvater verdammen oder ob sie ihm huldigen wollen.
Das war schon zu Jahns Lebzeiten so. Wo immer er auftauchte, hinterließ er zum einen Wirkung und zum anderen Fürsprecher wie Gegner. Dabei war er, bevor er zum streitbaren Charismatiker wurde, zunächst ein Gescheiterter. Geboren 1778 in der brandenburgischen Prignitz, strauchelte er in der Schule, später dann im Studium. Nichts klappte im Leben des jungen Mannes, der aber Vorbilder hatte, die ihn prägen sollten: den Nationalisten Ernst Moritz Arndt sowie den Pädagogen Johann Christoph Friedrich GutsMuths. Von Arndt sollte er die politischen Ansichten, von GutsMuths die Ideen zum Turnen übernehmen.
Beides zusammen plus die Eigenschaften eines Menschenfängers machten aus dem Gescheiterten selbst ein Vorbild für viele. Mit ein paar Freunden gründete Jahn 1810 in Berlin den geheimen Bund zur Befreiung und Einigung Deutschlands. Zunächst trafen sich die Freunde zu Wanderungen, dann wurden die sportlichen Aktivitäten immer weiter ausgebaut, bis im Juni 1811 in der Hasenheide der erste deutsche Turnplatz eröffnet wurde. „Am Anfang wurde noch hauptsächlich Räuber und Gendarm gespielt“, erzählt Steins. Nach und nach aber wurde der Platz attraktiver für Freunde der Bewegung. Turngeräte wie etwa der Voltigierbock oder der Schwebebaum, also Vorgänger des heutigen Turnbocks und Schwebebalkens, wurden entwickelt. Jahns Turnplatz fand immer größeren Zulauf. 1817 fanden sich regelmäßig mehr als 1000 Turner in der Hasenheide zusammen, und allein in Preußen gab es zu dieser Zeit schon mehr als 100 Turnplätze.
Jahn gab den Turnern dabei mehr als nur die Möglichkeit, sich zu bewegen. „Er hob die Ständegesellschaft auf. Auf dem Turnplatz waren alle gleich“, sagt Steins. „Die Turner duzten sich sogar untereinander. Das war zur damaligen Zeit völlig untypisch.“
Preußen verbot das Turnen und inhaftierte Jahn
Gleich waren die Turner auch – und an diesem Punkt wird das Erinnern an Jahn schwierig –, was die gemeinsame Geisteshaltung betraf. Diese war geprägt von abgrundtiefem Hass auf Napoleon und die Franzosenherrschaft in Deutschland. Vorgegeben wurde die Frankophobie vom Turnvater höchstselbst. Jahn bezweckte mit dem Turnplatz letztlich die Ertüchtigung der jungen Männer, um im Kampf gegen die Besatzer bestehen zu können. Auch wenn, wie Steins anmerkt, Jahn und seine Anhänger schon wegen ihrer Anzahl niemals ernsthaft als Streitkraft in Frage kamen.
Doch Jahns gepredigter Hass fiel ihm bald auf die Füße. Als im Jahr 1819 einer seiner Anhänger den Schriftsteller August von Kotzebue – der sich über Jahn und die Burschenschaften lustig gemacht hatte –, ermordete, wurde es ungemütlich für ihn und seine Freunde. Preußen verbot das Turnen und inhaftierte Jahn. Der Turnvater wurde später rehabilitiert, wurde 1848 sogar in die Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche gewählt. Aber das Revolutionäre, für das er einst gestanden hatte, ging ihm komplett ab. Der alte Turnvater trat in der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs als Verteidiger Preußens und der Monarchie auf. „Er war zu dieser Zeit völlig aus der Welt gefallen“, sagt der emeritierte Potsdamer Sporthistoriker Hans Joachim Teichler.
Wie umgehen mit Jahn?
Das änderte zunächst nichts an Jahns Popularität. Bei den Nationalsozialisten war er gleichermaßen anerkannt wie in der DDR-Führung. Die Nazis schätzten seinen überbordenden Fremdenhass, das DDR-Regime den Umstand, dass Jahn zusammen mit dem russischen Kaiserreich gegen imperiale Kräfte des Westens kämpfen wollte. „Jahn wurde von den jeweiligen Ideologien für deren Zwecke missbraucht“, sagt Steins. „Sowohl von den Rechten wie von den Linken.“ Letztere würden viele Unwahrheiten über ihn verbreiten. Steins will sogar bald ein Buch über die politisch motivierten Ungereimtheiten zu Jahn veröffentlichen.
Wie also umgehen mit dem Mann, der wie kein anderer für das Turnen steht, der aber auch radikale nationalistische Positionen vertrat?
„Ich will, dass der Mann differenziert und im Kontext seiner Zeit betrachtet wird“, sagt Steins. Das ist wiederum die Gretchenfrage in der Bewertung seiner Person. War der junge Jahn, der Querdenker, in einer Zeit der Fürstentümer und Kleinstaaterei gar fortschrittlich mit seinen Ideen von einem großen deutschen Volkstum?
Der Präsident des Deutschen Turner- Bundes, Alfons Hölzl, ist davon überzeugt: „Er war in seiner Zeit modern. Würde er heute leben, würde er vielleicht auch unsere Positionen vertreten.“ Der Sporthistoriker Teichler sieht Jahn dagegen kritisch: „Er war ein Reaktionär, voll des Fremdenhasses. Natürlich hat er Verdienste. Aber zum Glück hat das heutige Turnen herzlich wenige Anknüpfungspunkte zu ihm.“
„Leider gibt es immer noch einen Draht zu den Ultrarechten“
In rechten Kreisen sieht das anders aus. Viele braune Köpfe tummeln sich noch immer in Vereinigungen oder Veranstaltungen, die mit Jahn in Verbindung stehen. „Leider gibt es immer noch einen engen Draht von Jahn zu den Ultrarechten“, sagt Steins. Wenn sich am Mittwoch etwa die Jahn-Gesellschaft und die Studentenverbindung des Wiener Akademischen Turnvereins (WATV) treffen, dürften auch ein paar Gemüter mit zumindest fragwürdiger politischer Gesinnung aufeinandertreffen. Die Jahn-Gesellschaft ist wie Steins an einer differenzierten Betrachtung des Turnvaters gelegen. Aber ihre Erinnerungsveranstaltungen werden gelegentlich auch von denen besucht, die den Turnvater nicht wegen seiner Verdienste für das Turnen verehren, sondern wegen seiner nationalistischen Töne.
Das dürfte zum Beispiel auf Teile der Studentenverbindung des WATV zutreffen. Der österreichische Rechtsextremismus-Forscher Andreas Peham bezeichnet den WATV als Scharnierorganisation zwischen strengem Konservatismus und Rechtsextremismus. Der WATV ist Mitglied im Wiener Korporationsring, einem Zusammenschluss von Wiener Studentenverbindungen, der stark von Rechtsextremen dominiert wird. „Solche Nähe zum Rechtsextremismus wird in Österreich leider hingenommen, während sie in Deutschland wohl Konsequenzen nach sich ziehen würde“, sagt Peham.
Steins hat nicht gerne gehört, dass die Mitglieder der Studentenverbindung aus Wien zur Erinnerungsveranstaltung in die Hasenheide kommen. Er verlässt das Denkmal und bewegt sich in Richtung Ausgang. Er blickt nach rechts und sieht eine riesige Buddha-Statue, genau an der Stelle, an der er das Jahn-Museum gerne gesehen hätte. Der Kopf der Statue ist frisch lackiert worden, ein gleißendes Gold strahlt im Glanz der Sonne. Nur 50 Meter entfernt guckt der Turnvater herüber. Er sieht alt und blass und grau aus. Wie aus der Zeit gefallen.