Exoten bei Olympia: Geiger, Mariachi und Flip-Flops
Exoten bilden das Kontrastprogramm der Spiele: Sie haben eigentlich keine Chance im elitären und technischen Wintersport. In Sotschi sind dennoch so viele Länder vertreten wie nie, auch dank Wildcards – manche nutzen das vor allem zur Selbstvermarktung.
Es war einer dieser frühlingshaften Nachmittage oben im nordischen Skistadion von Krasnaja Poljana. Auf dem Programm stand der Langlauf-Klassiker über 15 Kilometer, und die Sonne schien auch für Roberto Carcelén. Der Peruaner kam als Letzter ins Ziel, elf Minuten hinter dem Vorletzten Dachhiri Sherpa aus Nepal und ganze 28 Minuten hinter Olympiasieger Dario Cologna aus der Schweiz; wobei gesagt werden muss, dass vier weitere Läufer den Wettbewerb gar nicht beendeten. Carcelén schloss sein Rennen mit Stil ab, fast wie ein Großer: Er griff sich aus dem Publikum eine peruanische Flagge und schwenkte sie beim Lauf über die Ziellinie. Dann kam auch Cologna herüber und gab ihm einen Klaps auf den Rücken.
„Natürlich sehen wir solche Bilder sehr gerne“, sagt IOC-Sprecher Mark Adams und ist schnell bei Rekordzahlen: 87 teilnehmende Nationen in Sotschi, dazu weltweit steigende TV-Quoten. In Brasilien etwa werde Curling besonders häufig eingeschaltet. Das IOC nimmt das als Zeichen für die weltweit wachsende Popularität der Winterspiele. „Wir wollen weiterhin Wettbewerbe auf höchstem Niveau sehen“, sagt Adams, „aber dort, wo die Teilnehmerfelder es ermöglichen, wünschen wir uns auch in Zukunft solche Bilder.“
Viele Wintersportarten sind zu technisch
Bilder, wie sie Roberto Carcelén liefert, der bei Olympia zu den Exoten zählt – ein Begriff, der eine gewisse Geringschätzigkeit birgt. Dahinter steht der von der Kolonialzeit geprägte europäische Blick auf das Andersartige, Fremde, den bestenfalls „edlen Wilden“. Wild ist Carcelén nicht, schon eher ein bisschen verrückt. Selbst zwei gebrochene Rippen, eine Verletzung, die er sich im Training zuzog, konnten den 43-Jährigen nicht von seiner zweiten Olympiateilnahme abhalten. 2010 in Vancouver war Carcelén der erste Peruaner überhaupt bei Winterspielen. Auf Skiern steht er erst seit sieben Jahren.
Leute wie Carcelén bilden das Kontrastprogramm in der auf Medaillen fixierten olympischen Hochleistungswelt. Sie haben keine Chance, aber sie nutzen sie, und manchmal nimmt sogar der Rest der Welt Notiz. Allerdings haben die Winterspiele wenig Platz für sie. Die meisten Wintersportarten sind zu technisch und zu elitär. Die 179 Eisschnellläufer in Sotschi kommen zum Beispiel aus nur 23 Ländern; unter ihnen befindet sich ein Australier, kein Südamerikaner und auch kein Afrikaner.
Nur Skilanglauf lässt Freiraum für olympische Außenseiter
Freiraum für olympische Außenseiter lässt nur eine so pure Sportart wie das Skilaufen. Der Kenianer Philip Boit, ein Neffe des Mittelstrecklers Mike Boit, war 1998 in Nagano der erste Afrikaner in der Loipe. Im Ziel wurde er von Rekord-Olympiasieger Björn Dählie geknuddelt; der hatte im Zielraum extra auf ihn gewartet.
Großzügige Quotenregelungen des Internationalen Ski-Verbandes (Fis) räumen jedem Land im Sprint und im Klassiker-Rennen eine Wildcard für einen Mann und eine Frau ein. Olympianeuling Togo fand bei Facebook die in Frankreich lebende Langläuferin Mathilde Petitjean, die die Norm schaffte. Ähnlich liegen die Dinge im alpinen Skisport. So kommt es, dass sich zwei peruanische Landsleute von Carcelén, die Geschwister Manfred und Ornella Öttl Reyés aus München, in Sotschi für Slalom und Riesenslalom gemeldet haben. Der Skirennfahrer der Cayman-Inseln lief in Shorts und Flip-Flops zur Eröffnung. Hubertus Prinz zu Hohenlohe, mit 55 Jahren ältester Teilnehmer und einziger Mexikaner, fährt in einem Mariachisänger-Anzug Slalom, die britische Geigerin Vanessa Mae für Thailand.
Einen Freifahrtschein zu Olympia bedeuten die Wildcards aber nicht. Als Schlagersänger Costa Cordalis, ein Hobby-Skifahrer, 1984 für Griechenland an den Winterspielen in Sarajevo teilnehmen wollte, ließ ihn das Nationale Olympische Komitee abblitzen. Dafür durfte er 1985 zur nordischen Ski-WM – die Fis hatte keine Einwände. Das IOC wiederum verwehrte Michael alias „Eddie The Eagle“ Edwards, Skisprung-Clown der Spiele 1988, mit der Einführung von Qualifikationshürden einen zweiten Olympiastart vier Jahre später in Albertville. Natürlich weckt der Exotenstatus auch Begehrlichkeiten bei Vermarktern. Der Rodler Bruno Banani von der Insel Tonga wurde vom gleichnamigen Unterwäschehersteller aus Sachsen umgetauft. Eigentlich heißt er Fuahea Semi. Jamaikas Zweierbob für Sotschi hat ein südkoreanischer Elektronikkonzern mit Sponsorengeld angeschoben. In solchen Fällen mag der Werbeeffekt groß sein, die Nachhaltigkeit ist gering.
Der Peruaner Carcelén, der gleich nach dem Rennen in Sotschi seinen Rücktritt erklärte, sorgt sich sehr wohl um sein olympisches Erbe. „Ich möchte gerne daheim in Peru Kindern das Skifahren beibringen, so dass sie hoffentlich einmal die Chance bekommen, an Olympia teilzunehmen.“
Dirk Schmidtke