Weltmeisterschaft 2018: Fußball in Russland: Niemand hat so richtig Lust drauf
Am Freitag werden die Gruppen ausgelost. Doch noch kann sich kaum jemand für die WM in Russland begeistern. Selbst im Gastgeberland fehlt die Euphorie.
Konstantin Rausch ist schuld daran, dass es mit den höchsten Weihen nicht geklappt hat. Ohne Rausch, den vom 1. FC Köln akquirierten Mittelfeldmann mit russischem Spätaussiedler-Hintergrund, hätte sich vor zwei Wochen Lionel Messi als erster Torschütze im generalsanierten Moskauer Luschniki-Park verewigt. Russland hatte sich die argentinische Nationalmannschaft zur Wiedereröffnung des größten und schönsten Stadions im ganzen Land eingeladen. Die Gäste aus Südamerika froren erbärmlich, aber sie machten ein gutes Spiel, allen voran Lionel Messi. Seine spektakulärste Aktion war ein Chip mit dem linken Fuß über den russischen Torhüter. Mit viel Effet flog der Ball Richtung Tor, und wenn alles gut gegangen wäre, hätten die Russen vielleicht schon am nächsten Tag eine lebensgroße Messi-Statue in Auftrag gegeben oder zumindest eine Gedenktafel: „Das erste Tor in diesem Stadion schoss der beste Fußballspieler der Welt.“
Dann aber kam aus dem Hintergrund Rausch angerannt und wuchtete den Ball mit seiner hohen Stirn zurück ins Spiel. Und die Korrespondenten aus der ganzen Welt schrieben am nächsten Tag nicht von Messis genialem Einstandsgeschenk, sondern über das Chaos beim Abtransport der 80 000 Zuschauer, weil irgendein Schalter bei der Moskauer Metro falsch umgelegt war. Hätte besser laufen können bei der Neueröffnung des für 500 Millionen Euro umgebauten Palastes, der wie bei der Einweihung vor gut 60 Jahren von einer Lenin-Statue bewacht wird.
Am Freitag wird im Konzertsaal des Kremls die Vorrunde der Fußball-Weltmeisterschaft ausgelost. In sieben Monaten schon steigt das Eröffnungsspiel im Luschniki, aber die Vorfreude hält sich in Grenzen, auch und gerade in Deutschland. Schon beim Confed-Cup im vergangenen Sommer, waren die sonst so reiselustigen Fans aus dem Land des Weltmeisters kaum zugegen. Russland gilt vielen auch ein Vierteljahrhundert nach der weltpolitischen Zeitenwende als finstere Macht im Osten. Das hat mit der Wirklichkeit herzlich wenig zu tun, aber Klischees sind nun mal langlebig. Außerdem sind da noch Krim-Besetzung, Anti-Schwulen- Gesetze und Hooligans, die nicht unbedingt Sympathien für Russland fördern.
Vor allem aber bringt dieses Land kaum jemand mit Fußball in Verbindung.
In Europa spielen russische Mannschaften eine untergeordnete Rolle
Russlands Liebe gilt dem Eishockey, der Fußball läuft eher nebenher, mit entsprechend reduziertem Erfolg. Bei den Spielen der nationalen Premjer Liga verlieren sich für gewöhnlich nicht mehr als 15 000 Zuschauer in den Stadien. Neun der zwölf WM-Arenen sind Neubauten, manche wegen der Wirtschaftskrise in Folge der EU-Sanktionen nicht ganz so groß und prächtig, wie das mal geplant war. Das bizarrste Stadion bekommt Wolgograd, einen Prunkbau, der in der Nacht wie ein Diamant funkelt, aus der Luft an einen fünfzackigen Stern erinnert. Kleine Reminiszenz an den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg über Nazi-Deutschland, als Wolgograd noch Stalingrad hieß. Kaliningrad, das frühere Königsberg, hat mit einem Fassungsvermögen von 35 000 Zuschauern das kleinste Stadion, es wird nach der WM vom Zweitligisten Baltika bespielt. Beim letzten Heimspiel vor einer Woche gegen Avantgard Kursk zählte der Kassierer exakt 2228 Zuschauer.
In Europa spielen russische Mannschaften eine untergeordnete Rolle. Igor Akinfejew, der Torhüter von ZSKA Moskau und Kapitän der Nationalmannschaft, hat das Kunststück fertiggebracht, in elf Jahren in 43 Champions-League-Spielen kein einziges Mal ohne Gegentor zu bleiben. Immerhin ist diese Serie seit dem 2:0 am Mittwoch über Benfica Lissabon beendet, aber aller Wahrscheinlichkeit nach wird es wieder mal kein russischer Klub in die K.o.-Runde schaffen. Der sportliche Erfolg in St. Petersburg und Moskau steht in diametralem Gegensatz zu den wirtschaftlichen Möglichkeiten. Gas- oder Petrorubel können nicht wettmachen, was die Granden der Fußballwelt unter Patina und Lebensqualität verstehen.
Das färbt auf die Nationalmannschaft ab, sie rekrutiert sich fast ausschließlich aus Spielern, die daheim ihr Geld verdienen. Gern hätte Russlands Vizepräsident Witali Mutko ausländische Profis eingebürgert, aber für dieses Projekt hat sich bisher nur zweit- oder drittklassiges Personal finden lassen: der brasilianische Ersatztorhüter Guilherme (Lokomotive Moskau), der bei Schalke 04 ausgemusterte Roman Neustädter (Fenerbahce Istanbul) oder eben Konstantin Rausch aus Köln. Beim Confed-Cup reichte es nur zu einem Sieg über Neuseeland und damit nicht für das Halbfinale.
Auf dem Rasen erschrecken die Russen niemanden mehr
Dabei wähnten sich die Russen vor gar nicht so langer Zeit als Avantgarde des neuen Europas und Herausforderer der Restauration. 2008 gewann Zenit St. Petersburg den Uefa-Cup und schickte auf dem Weg dorthin den FC Bayern mit 4:0 über die Ostsee zurück nach München. Ein paar Wochen später stürmte die Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft bis ins Halbfinale. Russische Spieler waren auf einmal auch in den großen Ligen gefragt. Andrej Arschawin ging zum FC Arsenal, Roman Pawljutschenko nach Tottenham, Juri Schirkow zum FC Chelsea. Als die Russen im Herbst 2009 zum entscheidenden WM-Qualifikationsspiel die deutsche Elf empfingen, sprach Witali Mutko: „Russland ist an der Reihe!“
Auf die Einlösung dieses Versprechens wartet die Welt bis heute. Die Russen verloren das Spiel gegen die Deutschen, sie fuhren nicht zur WM nach Südafrika und spielten auch bei den nachfolgenden Turnieren eine untergeordnete Rolle. Dreimal in Folge war nach der Vorrunde Schluss. Zuletzt bei der EM 2016 in Frankreich erregten die Russen nur durch ihre mitgereisten Hooligans Aufmerksamkeit. Die Randale beim Spiel gegen England in Marseille würdigte der Kommentator der Nachrichtenagentur Ria Nowosti mit dem interessanten Satz: „Wenn russische Fans andere Fans zusammenschlagen und die europäische Polizei Angst hat, sich ihnen in den Weg zu stellen, dann empfinde ich wenn schon nicht Stolz auf die Russen, so doch Befriedigung.“
Nur auf dem Rasen erschrecken die Russen niemanden mehr. Arschawin, Pawljutschenko und Schirkow tauschten die Herausforderung London bald wieder gegen das gute Geld in der Heimat. Die Avantgarde von 2008 ist bequem geworden, ihre Generation bleibt ein unvollendete, eine neue gibt es nicht. Gegen die Fifa-Weltrangliste lässt sich einiges sagen. Aber dass Russland auf Platz 65 liegt, hinter allen anderen 31 WM-Teilnehmern und hinter Burkina Faso, Jamaika oder Haiti, hat schon eine gewisse Aussagekraft. Elf Spiele hat die Nationalmannschaft in diesem Jahr absolviert, davon drei gewonnen und vier verloren. So wie vor zwei Wochen gegen Argentinien, als Konstantin Rausch verhinderte, dass sich Lionel Messi als erster Torschütze im alten neuen Luschniki verewigte. Das einzige Tor des frostigen Abends erzielte Sergio Agüero. Auch kein unbekannter Mann und immerhin der Schwiegersohn von Diego Maradona, aber für eine Gedenktafel dürfte das nicht reichen.