WM 2014: Finale gegen Argentinien: Für die deutsche Nationalmannschaft zählt nur der Titel
Diese deutsche Fußball-Nationalmannschaft hat genug: Genug von zweiten Plätzen und leeren Händen. Deshalb sind nun alle erfüllt von wilder Entschlossenheit. Gegen Argentinien soll der Titel her.
Die gute Nachricht vorweg: Übereinstimmenden Zeugenaussagen zufolge hält sich Philipp Lahm nach wie vor im Campo Bahia auf. Das mag zunächst nicht allzu spektakulär klingen, weil die deutsche Fußball-Nationalmannschaft und ihr Kapitän bei der Weltmeisterschaft noch ein Spiel zu bestreiten haben. Aber das wäre auch der Fall gewesen, wenn es die Deutschen zum Abschluss des Turniers nicht nach Rio zum Endspiel gegen Argentinien verschlagen hätte, sondern nach Brasilia ins kleine Finale. Die Nationalmannschaft hätte diese Reise leider ohne ihren Kapitän antreten müssen. „Da fahre ich lieber nach Hause“, hatte Lahm angekündigt, und vermutlich hätte er mühelos eine illustre Reisegruppe zusammenbekommen, die ihn bei der vorzeitigen Abreise liebend gern begleitet hätte.
Der Bedarf an Spielen um Platz drei dürfte bei den deutschen Nationalspielern für die nächsten Jahrzehnte gedeckt sein. Entsprechend entschlossen haben sie sich im Halbfinale gegen den WM-Gastgeber präsentiert. Das ist ein gutes Zeichen: Denn genauso ist ihr Bedarf an respektablen zweiten Plätzen und wohlwollenden Kritiken weitgehend gedeckt. Die Nationalspieler haben in diesen Tagen nur eines im Sinn: den goldenen Pokal. „Wir müssen das jetzt noch einmal durchziehen, Vollgas geben, ackern um unser Leben“, hat Thomas Müller nach dem epochalen 7:1 gegen Brasilien gesagt, „und dann wollen wir uns das Ding holen.“ Das Ding und nichts sonst.
Diese Entschlossenheit ist neu, die Fokussierung auf den Erfolg. Die Generation Lahm steht ja seit längerem unter dem Generalverdacht, ein bisschen zu weich zu sein, sich im Zweifel in Schönheit zu verlieren, angeleitet von einem Trainer, der das gewaltfreie Spiel predigt. Doch diese Deutung greift zumindest in Brasilien zu kurz. Früher hat Bundestrainer Joachim Löw die Meinung vertreten, dass Erfolg nur mit schönem Fußball zu erzielen sei. Dass er von dieser Ansicht ein wenig abgerückt ist, zeigt schon seine Idee, bei der WM in Brasilien die Viererkette ausschließlich mit Innenverteidigern zu besetzen.
Schön ist nur der Erfolg - egal, ob dabei schöner Fußball herausspringt
Nach dem Sieg gegen Brasilien hat Thomas Müller noch einmal über „unser geliebtes Algerien-Spiel“ gesprochen, das die Deutschen erst nach zähem Kampf in der Verlängerung gewonnen hatten. Es war ätzend ironisch gemeint, weil die Nationalmannschaft für diesen Auftritt heftig kritisiert worden war. Im Grunde aber haben die Spieler diese Begegnung tatsächlich ein bisschen lieb gewonnen – weil sie ihnen gezeigt hat, worauf es wirklich ankommt.
Schön ist nur der Erfolg, und wenn dabei schöner Fußball herausspringt wie im Halbfinale von Belo Horizonte – umso besser. Aber nicht andersherum. „Wir wollen nicht wieder die Sympathien gewinnen, aber am Ende mit leeren Händen dastehen“, sagt Sami Khedira. Von leeren Händen haben diese Spieler genug: WM-Dritter 2006 und 2010, Zweiter bei der EM 2008 und Halbfinalverlierer 2012. Doch die Häufung des späten und doch zu frühen Scheiterns scheint in Brasilien weniger zu Selbstzweifeln geführt zu haben als zu Trotz und wilder Entschlossenheit.
Im Moment scheint niemand fürchten zu müssen, dass sich die Nationalspieler dem Rausch hingeben, den das 7:1 gegen Brasilien ausgelöst hat. Die Versuchung ist ja durchaus verführerisch, aber bisher gibt es dafür keinerlei Anzeichen, dass sich die Deutschen ihr hingäben. „Wir wissen, dass wir noch nicht am Ende sind“, sagt Stürmer Miroslav Klose, der als einziger Spieler schon ein WM-Endspiel bestritten hat, 2002 in Yokohama gegen Brasilien. „Es ist fantastisch. Aber ich habe schon eins verloren, ich weiß, wie sich das anfühlt. Ich muss jetzt alles tun, damit wir es anders machen.“
Die deutsche Mannschaft wirkte nach dem Halbfinale erstaunlich nüchtern
Selbst unter dem unmittelbaren Eindruck des berauschenden Halbfinalsieges gegen Brasilien wirkte die deutsche Mannschaft erstaunlich nüchtern. Euphorie habe er in der Kabine nicht entdecken können, berichtete der Bundestrainer. „Die Spieler sind sehr geerdet“, sagte Löw. „Wir müssen jetzt Demut haben und uns in aller Ruhe vorbereiten auf das Finale.“ Es ist noch nicht vorbei.
Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte des Fußballs, dass eine Mannschaft aus dem Gefühl des Scheiterns eine besondere Motivation zieht. Die Bayern verloren 1999 das Finale der Champions League auf die denkbar unglücklichste Weise (durch zwei Gegentore in der Nachspielzeit) – und gaben anschließend keine Ruhe, bis sie zwei Jahre später den Pokal doch noch in ihren Händen hielten. Die aktuelle Mannschaft der Bayern verlor sogar zwei Champions-League-Endspiele (2010 und 2012), das zweite auf die denkbar zweitunglücklichste Weise (im Elfmeterschießen im eigenen Stadion) – und gewann den Titel im Jahr darauf.
Die Bayern-Spieler bilden auch das Gerüst der Nationalmannschaft, insgesamt stehen in Löws aktueller Stammelf sieben Champions-League-Sieger. Sie wissen, wie der Erfolg sich anfühlt; sie wissen auch, was sie dafür investieren müssen. Es ist kein Zufall, dass Leute wie Thomas Müller, Philipp Lahm, Manuel Neuer und Sami Khedira den Willen nach Erfolg am deutlichsten nach außen tragen. Sie sind das Siegen gewohnt – und können trotzdem nicht genug davon bekommen. Joachim Löw ist zu einer ähnlichen Erkenntnis gelangt: „Ich glaube, dass die Mannschaft bereit ist, das Finale zu gewinnen.“