Diego Maradona: "Für den Pokal würde ich einen Arm geben"
Diego Maradona sieht sich als Trainer gereift und erzählt, warum Messi sein Nachfolger ist und was ihm vor dem Spiel gegen Deutschland durch den Kopf geht.
TAGESSPIEGEL: Diego Maradona, Sie sind der einzige Trainer, der Küsse verteilt.
DIEGO MARADONA: Ich war schon immer so. Du kannst den ganzen Tag trainieren, von morgens bis abends, aber wenn kein Feeling zwischen dir und den Spielern ist, dann kannst du keine Geschichte schreiben. Niemand soll glauben, dass hier ein Zauberer am Werk ist. Die Zauberer sind die mit den kurzen Hosen. Natürlich gibt es die Guardiolas, Mourinhos, Menottis, Bilardos und Basiles – Trainer, die einiges erreicht haben. Aber durch ihre Spieler.
TAGESSPIEGEL: Was unterscheidet Sie von diesen Trainern?
DIEGO MARADONA: Ich bin im richtigen Moment zu einer Gruppe argentinischer Spieler gekommen, die zusammenspielen, um die Menschen zu erfreuen. Ich danke Gott, dass sie alle gesund sind.
TAGESSPIEGEL: Es gibt auch Trainer, die mit den besten Spielern im Kader scheitern...
DIEGO MARADONA: Das stimmt. Aber ich bin gereift. Denn die WM verlangt es, schnelle Entscheidungen zu treffen. Ich wusste: Wenn wir wieder spüren, was das argentinische Trikot bedeutet und was eine Weltmeisterschaft bedeutet, dann werden wir anders auftreten.
TAGESSPIEGEL: Nach Bastian Schweinsteigers Verbalattacken sagten Sie, dass Schweinsteiger wohl nur nervös sei. Sind Sie denn gar nicht nervös vor dem Spiel gegen Deutschland?
DIEGO MARADONA: Ich mache mir keine großen Sorgen wegen Deutschland. Wenn wir gleichviel Ballbesitz haben, dann sind wir im Vorteil, weil wir den Ball besser kontrollieren können. Wie wir im März gegen Deutschland gespielt haben, war taktisch perfekt. Ich möchte, dass die Jungs verstehen, dass wir dem Gegner nicht den Ball herschenken können, wie wir es zwanzig Minuten lang gegen Mexiko getan haben. Wenn wir die Kontrolle am Spiel abgeben, dann ist das ganz allein unsere Schuld.
TAGESSPIEGEL: Man sagt, dass die Einzelspieler Argentiniens Mannschaft so gut machen. Schmälert das Ihren Verdienst?
DIEGO MARADONA: Ich möchte der Letzte sein, der den Pokal küsst, denn die Spieler sind es, die ihn gewinnen. Dass das klar ist!
TAGESSPIEGEL: Spüren Sie jetzt den Respekt vor dem Trainer Maradona, den Sie vorher vermissten und worüber Sie sich in derben Worten Luft gemacht haben?
DIEGO MARADONA: Ich habe nie daran geglaubt, was einige geschrieben haben. Ich kannte meine Fähigkeiten, wusste, was ich geben kann. Deshalb haben mich die Kritiken während der Qualifikation nicht geschockt. Ich wusste, dass ich eines Tages genau den Mascherano haben würde, den ich heute habe, und nicht den Mascherano, der mit einer Hälfte seiner Gedanken bei Real Madrid war und mit der anderen in Barcelona. Ich wusste, dass ich diesen Messi haben würde, diesen Tevez …
TAGESSPIEGEL: Genießen Sie die WM mehr als erwartet?
DIEGO MARADONA: Nein, ich habe mir das genau so vorgestellt.
TAGESSPIEGEL: Ist Lionel Messi wie der Maradona von 1986 oder eher wie der Maradona von 1982?
DIEGO MARADONA: Diese Vergleiche müssen aufhören, Messi sprengt alle Schubladen. Er ist so gut, dass er mit einer Krone auf das Spielfeld gehen könnte.
TAGESSPIEGEL: Messi sagt, es läge an Ihnen, dass er so gut ist.
DIEGO MARADONA: Dankeschön, aber Lío spielt auf diesem Niveau, weil er es will. Er ist glücklich. Und alle, die sich beschwert haben, als Messi die Nationalhymne vor den Qualifikationsspielen nicht mitsang, frage ich: Wem macht es Spaß, zu verlieren? Und wir haben damals verloren! Aber jetzt ist alles anders, und es macht mich stolz, Messi glücklich zu machen. Ich sehe, wie er mit Javier Pastore oder mit Ariel Garce scherzt, die er vorher noch nie getroffen hatte. Ich beobachte die Spieler wie ein Spion. La Bruja („Die Hexe“ – der Spitzname für Verón) ist ein Fußball-Intellektueller. Er weiß viel mehr über Fußball als Lío, aber der Kleine redet mit!
TAGESSPIEGEL: Sie haben sich Sorgen um Messi gemacht, der in der Nationalmannschaft lange nicht zur Form fand. Dann sind Sie extra nach Barcelona geflogen, um ihn zu besuchen.
DIEGO MARADONA: Ich wollte nie einen Messi, der sklavisch an eine Position gebunden ist. Es soll sich dem Ball nahe fühlen. Er soll ihn halten, eine Torsituation schaffen oder den entscheidenden Pass spielen. Er hat zwar noch kein Tor geschossen, aber man darf nicht vergessen, dass auch ich 1986 erst im Viertelfinale so richtig in Erscheinung trat.
TAGESSPIEGEL: Hat er Ihnen gesagt, wo er sich am wohlsten fühlt?
DIEGO MARADONA: Nein. Ich bin zu Messi gegangen und erzählte ihm, dass mir nie jemand vorgeschrieben hatte, wo ich spielen sollte. Also muss auch er entscheiden, wo er spielen will. Er ist Manns genug, sich den Ball zu schnappen und zu sagen: „Dieser Ball gehört mir, und niemand liest dieses Spiel so gut wie ich!“ Das habe ich als Spieler getan, jetzt ist Messi dran.
TAGESSPIEGEL: Ihre Botschaft an Messi lautete also: Ich werde auf dich setzen, aber du musst du selbst sein?
DIEGO MARADONA: Ja, und es ist für mich großartig, wenn er zu mir sagt: „Bitte, stell mich auf!“, wie er es vor dem Spiel gegen Griechenland tat. Ich hätte ihn natürlich sowieso aufgestellt! Aber was ich sagen will, ist, dass Messi den Ball und das argentinische Trikot abgöttisch liebt.
TAGESSPIEGEL: Ist Ihre Strategie als Trainer, die Spieler einfach machen zu lassen?
DIEGO MARADONA: Vorsicht: Du kannst Bolatti oder Jonás oder Burdisso nicht die gleichen Freiheiten geben wie Messi. Du musst wissen, wen du machen lässt und wen nicht. Und das ist meine Aufgabe. Ich muss sehen, mit wem Messi sich am besten versteht, mit wem er das beste Feeling hat, mit wem er am liebsten spielt. Und Abwehr und Mittelfeld müssen solide stehen, damit wir wie ein Blitz nach vorne stoßen können.
TAGESSPIEGEL: Messis Gesichtsausdruck hat sich verändert, auf dem Feld und auch in Interviews. Früher senkte er immer den Blick, wenn er sprach, jetzt sieht man ihn mit erhobenem Kopf.
DIEGO MARADONA: Er ist ein Mann, ein Mann! Und es ist toll, in dieser Zeit an seiner Seite zu sein.
TAGESSPIEGEL: Messi sagte, dass er in der Qualifikation nicht er selbst war. War das bei Ihnen ähnlich? Als Trainer haben Sie ein Scheitern erst im letzten Moment verhindern können.
DIEGO MARADONA: Der Unterschied ist: Ich habe jetzt mehr Zeit. Die braucht man mit diesen Spielern. Ich kann jetzt meiner Fantasie freien Lauf lassen, mir etwa eine Standardsituation mit Messi und Verón vorstellen: Zwei stehen in der Mauer, du hast zwei zum Schießen, Messi legt Verón auf, der zieht alle Spieler auf sich und Messi ist plötzlich frei. In einer solchen Situation ist Messi tödlich.
TAGESSPIEGEL: Haben Sie irgendeinen Spieler bei dieser WM gesehen, der ähnlich gut ist wie Messi?
DIEGO MARADONA: Ich habe keinen gesehen, der auch nur 30 Prozent von Messi hat. Ich habe auch keinen gesehen, der 30 Prozent von Tevez hat. Er reißt dich mit seinem Spiel mit. Ich liebe meine Mannschaft. Der Favorit, von dem ich gehört habe, verlor mit Xavi und Iniesta 0:1 gegen die Schweiz. Ich zitiere jetzt mal unseren Kotrainer Hector Enrique: Wenn die Tore an der Seitenlinie stünden, hätte Spanien 10:1 gewonnen. Das stimmt. Weil sie den Ball halten und halten und halten, aber wann greifen sie an?
TAGESSPIEGEL: Sie sagen, Argentinien gehöre nicht zu den Favoriten – um die Erwartungen nicht so hoch zu schrauben?
DIEGO MARADONA: Wir lassen anderen gerne den Vortritt, wir orientieren uns immer am nächsten Spiel. Sie sollen ruhig alle kommen!
TAGESSPIEGEL: Gerade sprachen Sie noch von Spanien…
DIEGO MARADONA: ... wenn wir sie an den Rand des Abgrunds getrieben haben, werden wir sie hinunterstoßen. Sie würden das doch genauso machen, uns hineinstoßen! Sie würden dir nicht die rettende Hand hinhalten. Sie werden dir auf die Finger treten, damit du runterfällst. So ist es eben.
TAGESSPIEGEL: Es heißt, Sie wären nur der Motivator der Mannschaft, die Taktik bestimmten andere. Wer zeichnet an der Tafel die Standardsituationen auf?
DIEGO MARADONA: Das besprechen wir zu dritt, Mancu (Spitzname von Kotrainer Alejandro Mancuso), El Negro (Spitzname von Hector Enrique) und ich. Wir schauen uns Videos an und lassen uns Spielzüge einfallen. Manchmal fallen mir mehr ein als den beiden anderen. Heinze schoss das Tor gegen Nigeria, weil ich gesehen hatte, dass Nigeria stark verteidigen kann. Also sagte ich: Ich werde ihnen starke Spieler gegenüberstellen. Ich werde drei Mauern bauen: Samuel, Tevez, Demichelis. Ihr werdet sehen, dass sie da nicht gegen ankommen werden und sie werden ihren Strafraum nicht mehr verlassen. Und el Gringo (Spitzname von Heinze) wird ihnen dann vom Elfmeterpunkt einen reinmachen. Wir haben das im Training geübt, und ich erkannte, dass wir das Spiel so knacken können. Deshalb habe ich nach dem Tor geschrieen: „Der Spielzug hat funktioniert, der Spielzug hat funktioniert!“
TAGESSPIEGEL: Wann haben Sie den Schritt vom Spieler zum Trainer gemacht?
DIEGO MARADONA: Als ich mich zurückziehen musste, um eine Mannschaft zu finden. Dabei dachte ich immer an die Spieler und vergaß die harte Kritik von außen. Ich dachte darüber nach, was mit diesen Spielern möglich ist. Ich habe sie lange beobachtet.
TAGESSPIEGEL: An welchem Trainer orientieren Sie sich?
DIEGO MARADONA: Mir gefällt Mourinho. Nicht nur als Trainer. Mir gefällt auch, wie er mich behandelt. Wir haben stundenlang miteinander über Fußball geredet. Mourinho ist ein Typ, mit dem du dich ins Kämmerchen zurückziehen kannst, um ihn um Rat zu bitten. Ich habe seine Telefonnummer, manchmal rufe ich ihn an.
TAGESSPIEGEL: Würden Sie ihn auch jetzt anrufen?
DIEGO MARADONA: Wenn ich Zweifel hätte, würde ich das tun. Er ist der Champion der Champions.
TAGESSPIEGEL: Apropos Trainer-Stil: Wann hatten Sie die Idee, die vier zentralen Spieler offensiver agieren zu lassen?
DIEGO MARADONA: Die hatte ich schon lange, aber ich hatte nicht die Spieler dazu. Einer war erschöpft, der zweite hatte Probleme, der dritte wollte seinen Klub verlassen, es gab interne Schwierigkeiten. Als sie alle mental befreit waren, sagte ich ihnen: „Lauft nach vorne!“ Verteidigen ist nicht alles.
TAGESSPIEGEL: Ähnelt die Mannschaft darin der von 1994, in der Sie selbst noch gespielt haben: Den Ball halten, damit der Gegner ihn nicht bekommt?
DIEGO MARADONA: Das ist eine Art Mantra, das ich täglich wiederhole. Solange wir ihn haben, haben sie ihn nicht. Und keine andere Mannschaft der Welt kann den Ball so gut halten wie wir, denn wir haben die besten Füße.
TAGESSPIEGEL: Was würden Sie dafür geben, Weltmeister zu werden?
DIEGO MARADONA: Einen Arm. Ich würde einen Arm für diesen Pokal geben.
TAGESSPIEGEL: Sie haben versprochen, nackt durch Buenos Aires zu laufen, wenn Argentinien Weltmeister wird. Momentan ist es dort Winter und ziemlich kalt.
DIEGO MARADONA: Aber ich stehe zu dem Versprechen. Ich habe ja nicht gesagt, wann ich mich ausziehe.
Das Gespräch führte Carlos Carpaneto. Aus dem Spanischen von Anna Kemper und Philipp Lichterbeck.