Herthas Trainerfrage: Friedhelm Funkel: Zauberer oder Zauderer?
Hertha BSC droht der Abstieg. Friedhelm Funkels Auftrag war klar: Berlin vor dem Absturz retten. War er die richtige Wahl dafür?
PRO
Friedhelm Funkel hat ein Wunder geschafft. Dass Hertha BSC drei Spieltage vor Schluss noch Chancen auf den Klassenerhalt hat – es ist ein Wunder. Nach nur sechs Punkten zur Winterpause, der zweitschlechtesten Hinserie, die je eine Bundesliga-Mannschaft gespielt hat, mit einem Kader, der kein Bundesliga-Niveau zu haben schien – ein Wunder!
Die meisten Trainer hätten mit dieser Hypothek in der Rückrunde nur noch den Niedergang verwalten können. Funkel aber verhinderte nicht nur Auflösungserscheinungen und die völlige Selbstaufgabe der Mannschaft, er holte mit dieser Trümmertruppe noch 17 Punkte. Das ist Platz elf in der Rückrundentabelle, eine bessere Bilanz, als sie etwa der Europapokal-Kandidat Hamburger SV aufweist. Aus der schlechtesten Abwehr der Hinrunde formte Funkel die beste der Rückrunde: Nur zwölf Tore hat Hertha in den 14 Spielen des Jahres 2010 kassiert, in den 17 der ersten Saisonhälfte waren es noch 39.
Aber diese Bilanz wird aller Voraussicht nach nicht reichen, um am Ende in der Bundesliga zu bleiben. Das liegt auch daran, dass Funkel in der Hinrunde aus zehn Spielen nur drei Punkte holte – so der Vorwurf der Kritiker. Doch man sollte die Umstände bedenken, unter denen Funkel seinen Job in Berlin antrat. Er übernahm einen durch Abgänge von Leistungsträgern (Pantelic, Woronin, Simunic), Fehleinkäufe (Wichniarek, Pejcinovic, Cesar) und Formschwächen (Kacar, Cicero, Nicu, Ebert) völlig deformierten Kader, der zudem voll auf Vorgänger Lucien Favre und dessen Vorstellungen von Fußball zugeschnitten war. Und die hatten mit Abstiegskampf nichts zu tun.
Als einziger (!) Bundesligist hatte Hertha in der Hinrunde keinen Verteidiger mit mehr als 1,90 Meter Körperlänge im Kader. Mit so einem Aufgebot kann man, wenn es gut läuft, gepflegten Kurzpassfußball spielen, aber nicht im Existenzkampf am Tabellenende bestehen. Man kann Funkel eigentlich nur eines vorwerfen: dass er diese schlecht zusammengestellte Mannschaft überhaupt übernommen hat. Alle drei Neuzugänge (Gekas, Kobiaschwili, Hubnik), die auf Funkels Bestreben hin im Winter nach Berlin geholt wurden, erwiesen sich jedenfalls auf Anhieb als Verstärkungen. Das spricht für seine Fähigkeit, eine gute Mannschaft zusammenzustellen.
Trotzdem wird von vielen Seiten moniert, mit seiner spröden, unaufgeregten Art hätte er die Mannschaft eher eingeschläfert als für den Abstiegskampf heiß gemacht. Das Gegenteil ist der Fall. Wer glaubt allen Ernstes, Hertha stünde besser da, wenn Funkel die verunsicherten Spieler anschreien und öffentlich kritisieren würde? Wer denkt, ein Trainer macht sich glaubwürdig, wenn er vor jedem Spiel sagt, es müsse unbedingt gewonnen werden, sonst sei alles vorbei? Wer das glaubt, müsste sich wünschen, Werner Lorant hätte bei Hertha BSC und nicht bei Tennis Borussia angeheuert.
Man kann Herthas Mannschaft gewiss nicht unterstellen, sie habe sich nicht bemüht oder den Ernst der Lage nicht verstanden. Was hätte da öffentliche Effekthascherei gebracht? Es waren eher Nervenschwäche und fehlendes Selbstvertrauen, die Punkte kosteten. Das belegt die katastrophale Bilanz vor der Erwartungskulisse Olympiastadion. Also nahm Funkel den Spielern Druck, anstatt zusätzlich welchen aufzubauen.
Dennoch liest sich Funkels Gesamtbilanz von 20 Punkten in 24 Spielen auf den ersten Blick denkbar schlecht. Aber vieles relativiert sich, vergleicht man sie mit der Konkurrenz: Hannover, Bochum und Hoffenheim holten im gleichen Zeitraum nur einen Punkt mehr, Freiburg sogar zwei weniger. Die Punktausbeute liegt also durchaus im Schnitt.
Dazu muss man bedenken, dass Hertha jenseits aller Verschwörungstheorien Pech hatte mit den Schiedsrichtern. Da waren die fälschlicherweise nicht anerkannten Tore gegen Dortmund und Bremen, die nicht gegebenen Elfmeter gegen Stuttgart, Nürnberg und Köln. Sechs Punkte hätte Hertha ohne diese Fehlurteile mehr – und stünde nicht mehr auf einem Abstiegsplatz. Doch das ist das Los des Anti-Medienlieblings Funkel: Sagt er nichts in der Öffentlichkeit, wird er als Langweiler abgetan, beschwert er sich einmal laut, wird er belächelt.
Viele fordern, Hertha BSC solle einen möglichen Neuaufbau in der Zweiten Liga ohne Funkel beginnen. Das wäre nun wirklich das Dümmste, was der Verein machen könnte. Egal, ob man Funkel nun mag oder nicht – aufsteigen kann er, das ist unbestritten. Fünfmal führte er Teams in die Erste Liga, die gerade erst abgestiegen waren. Ein Mann mit einem Händchen für direkte Wiederaufstiege – so einen sollte man nun wirklich nicht wegschicken. Dominik Bardow
CONTRA
In dieser Woche ist Friedhelm Funkel gefragt worden, ob er denn auch Trainer bei Hertha BSC bleibe, wenn die Mannschaft aus der Fußball-Bundesliga absteige. Seit 38 Jahren lebe er von und mit dem Fußball, hat Funkel geantwortet, insofern sei die Frage nach seiner beruflichen Zukunft völlig uninteressant: "Die wird weitergehen." Sollte sich im Fußball nichts Neues auftun, könnte Funkel über einen Wechsel in die PR-Branche nachdenken. Seit Wochen betreibt er eine aufwendige Öffentlichkeitsarbeit, vor allem in eigener Sache. Und das durchaus mit Erfolg. Die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" hat am Wochenende geschrieben, dass Funkel seit der Winterpause "erstklassige Entwicklungsarbeit" in Berlin geleistet habe. Ein ungewöhnliches Lob für einen Trainer, der mit seiner Mannschaft noch genau da steht, wo er sie vor fast sieben Monaten übernommen hat: auf dem letzten Platz.
Es kann in diesen Wochen sehr ermüdend sein, Friedhelm Funkel bei seinen dauernden Verteidigungsreden zuzuhören. Man kennt seine Sätze inzwischen in- und auswendig. "Wenn mir immer die gleichen Fragen gestellt werden, muss ich mich auch wiederholen", sagt er.
Wirksame PR konzentriert sich auf wenige Botschaften, die sich dem Publikum durch stete Wiederholung einprägen sollen. Diese Linie verfolgt auch Friedhelm Funkel. Seine Kernthesen lauten: Wir sind stabiler geworden. Wir waren in der Hinrunde nicht konkurrenzfähig; jetzt sind wir es. Wir waren in (fast) allen Spielen die bessere Mannschaft. Wir hatten mehr Torchancen als der Gegner. Die Schiedsrichter pfeifen gegen uns. Die Schlussfolgerung kann da nur lauten: Es ist eine Schande, dass wir noch Letzter sind. Genau das ist die Crux. Als Funkel bei Hertha anfing, hatte er einen klaren Auftrag: Er sollte die Mannschaft vor dem Absturz retten. So anspruchsvoll, wie die Aufgabe aus heutiger Sicht erscheint, war sie zunächst gar nicht. Bei Funkels Amtsantritt lag die Mannschaft fünf Punkte hinter Platz neun, jetzt sind es fünf zum Relegationsplatz. Da reicht es nicht, jetzt auf verbesserte Haltungsnoten zu verweisen.
In der Rückrunde, so behauptet Funkel, habe sich "alles um Längen verbessert". Hertha habe von allen Bundesligisten die wenigsten Gegentore kassiert, sei in keinem Spiel - gegen egal welchen Gegner - deutlich abgefallen. Das mag stimmen. Aber Stabilität ist kein Selbstzweck, sie kann nur Mittel zum Zweck sein, gerade wenn man aus nahezu aussichtsloser Position in die Rückrunde startet. Im Winter hatten die Berliner ganze sechs Punkte auf ihrem Konto, zehn lagen sie hinter dem Relegationsplatz zurück. Bei einer solchen Bilanz reicht es nicht, fortan stabil zu sein: Man muss angreifen, die Rettung irgendwie erzwingen. Wie totale Leidenschaft unter Funkel aussieht, konnte man in den müden Heimspielen gegen Gladbach, Bochum, Mainz und Hoffenheim sehen.
In der Rückrunde haben die Berliner zwar ein paar schöne Siege errungen; von den wirklich engen Spielen aber - gegen Nürnberg und Stuttgart, in Bremen und Hamburg - konnten sie kein einziges für sich entscheiden.
Hertha ist nicht die erste Mannschaft im Abstiegskampf, die das Gefühl hat, alles habe sich gegen sie verschworen. Gerade Funkel müsste das wissen. Wer mehr als andere von glücklichen Zufällen abhängt, wird deren Fehlen umso mehr bejammern. Aber Pech ist es sicher nicht, dass die Frankfurter am Sonntag einen Elfmeter gegen Hertha verschossen haben, dass den Gladbachern (beim Stand von 0:0) das gleiche Missgeschick unterlaufen ist und der VfL Bochum in letzter Minute den Pfosten des Berliner Tores traf.
Trotzdem fühlt sich Funkel verfolgt und ungerecht behandelt. Dabei wird er doch nur an seinen eigenen Worten gemessen. Im Winter, als bereits alles verloren schien, hat er seine private Rechnung für die Rettung präsentiert: 28 Punkte brauche die Mannschaft. 17 hat sie seitdem geholt, und weil nur noch neun Punkte zu vergeben sind, steht schon jetzt fest, dass diese Rechnung nicht aufgeht. Das liegt auch daran, dass Hertha unter Funkels Regie noch kein einziges Mal im Olympiastadion gewonnen und in den sieben Heimspielen des Jahres 2010 gerade zwei Tore geschossen hat.
Falls Hertha absteigt, ist der Grund längst gefunden. Funkel weist bei jeder Gelegenheit darauf hin, dass die Hinrunde eine zu schwere Hypothek gewesen sei. Das hört sich immer ein bisschen so an, als hätte Funkel mit der Hinrunde gar nichts zu tun gehabt. Natürlich hat er den Kader im Sommer nicht zusammengestellt, und für die Vorbereitung war er auch nicht verantwortlich, aber schon in der Vorrunde hieß Herthas Trainer in zehn Spielen Friedhelm Funkel. In diesen Spielen hat die Mannschaft ganze drei Punkte geholt.
Wären es nur drei mehr gewesen, sähe Herthas Situation heute wohl grundlegend anders aus. Stefan Hermanns