Achtelfinal-Hinspiel bei Juventus Turin: FC Bayern München: Auf den Schultern von Zwergen
Was tun, wenn die Verteidiger fehlen? Die Personalnot bietet Bayern München vor dem Achtelfinal-Hinspiel bei Juventus Turin neue taktische Möglichkeiten.
Immerhin, es gibt noch gute Nachrichten für den FC Bayern München, was Defensivspieler angeht. Medhi Benatia ist mit zum Achtelfinal-Hinspiel der Champions League nach Turin gereist. Aber dass der gerade erst wiedergenesene Innenverteidiger aus Marokko am Mittwoch gegen Juventus aufläuft (20.45 Uhr/Sky), ist doch arg unwahrscheinlich. Und so wird Pep Guardiola im bisher wichtigsten Spiel der Saison wohl auf eine Abwehr ohne Abwehrspieler setzen. Jerome Boateng, Javi Martinez und Holger Badstuber sind verletzt, Neuzugang Serdar Tasci hat noch Nachholbedarf.
Der Trainer hat schon gezeigt, dass er auch ohne großgewachsene Verteidiger Spiele gewinnen kann. Teilweise hat er sogar ohne Not Mittelfeldspieler in die Abwehr gestellt. Nun ist er quasi dazu gezwungen. Doch wie kann diese Variante, die zuletzt selbst gegen Augsburg oder Darmstadt nicht einwandfrei funktionierte, auf allerhöchstem Niveau taktisch bestehen? Gegen internationale Klassestürmer wie Mario Mandzukic, Alvaro Morata oder Paulo Dybala?
Andere Taktik als in der Bundesliga
In der Bundesliga kann die Agilität von David Alaba oder Joshua Kimmich, die zuletzt hinten aushalfen, in der Defensivzentrale sehr hilfreich sein. Denn gegen die meisten Bundesligisten, die sich tief in der eigenen Hälfte verschanzen, muss der FC Bayern vor allem darauf achten, nicht von Kontern des Gegners erwischt zu werden. Die Innenverteidiger stehen dabei sehr weit entfernt von Manuel Neuers Tor, können aber Laufduelle im Rückwärtsgang meist für sich entscheiden. Zudem sind kleinere Verteidiger dafür geeignet, Situationen frühzeitig zu bereinigen. Sie können explosiv ihre Position verlassen, nach vorne sprinten und ihre Gegenspieler in Zweikämpfe zwingen. Selbst wenn der Gegner die Oberhand behält, besteht noch die Möglichkeit, die Konterspieler zu verfolgen und abzudrängen.
Mannschaften, die mit zwei klassischen Innenverteidigern operieren, wollen normalerweise das Zentrum des Spielfeldes blockieren. Dafür lassen sie zuweilen Platz auf den Außenbahnen. Dem Gegner bietet man die Flügel förmlich an. Denn Flanken in den Sechzehnmeterraum können die Abwehrspieler herausköpfen, wodurch das andere Teams seine Offensivaktionen regelrecht vergeudet.
Die Bayern hingegen müssen im anstehenden Duell mit Juventus eine gegenteilige Strategie umsetzen. Der Ball darf nur selten hoch in den Strafraum fliegen. Gegen physisch starke Stürmer wie Mandzukic haben sie sonst das Nachsehen. „Jede Mannschaft der Welt ist stärker im Kopfball als wir“, gab Guardiola zuletzt zu. Befindet sich der Ball auf dem Rasen, kommt den Bayern ihre Agilität zugute.
Um das umzusetzen, braucht es ein entsprechendes Pressingkonzept. Das bedeutet, die Bayern müssen Juventus schon auf den Außenbahnen stören. Sie verleiten die Italiener dazu, durch die Mitte zu kombinieren. Sollte Juventus jedoch Räume erobern und vorrücken, müssen sich die Münchener weiter zurückziehen und entsprechend das Abwehrzentrum verstärken. Ein Sechser wie Xabi Alonso könnte zwischen die Innenverteidiger rücken und für mehr Präsenz im Strafraum sorgen – oder gleich in der Abwehr beginnen.
Sind große Innenverteidiger eine aussterbende Spezies?
Doch im besten Fall darf es nur selten dazu kommen, dass der Tabellenführer der Bundesliga in die Nähe des eigenen Tores gedrückt wird. Eine kleine, quirlige Abwehr ist dafür gemacht, das Rückgrat eines dominanten Ballbesitzteams zu bilden. Eben deshalb hatte Guardiola bereits begonnen, Alaba im Verteidigungszentrum aufzustellen oder etwa Rafinha als Teil einer Dreierkette spielen zu lassen.
Alaba und Kimmich sind hervorragende Techniker, die den ersten Pass im Spielaufbau präzise an den Mann bringen und sich auch aus Drucksituationen herauswinden können. Das Pressing des Gegners wird meist ins Leere laufen.
Sind somit großgewachsene Innenverteidiger eine aussterbende Spezies? Auf keinen Fall. Gerade Bayern München hat bewiesen, dass es eher um die Weiterentwicklung der Position geht. Jerome Boateng vereint Körpergröße mit grandioser Athletik. Seine präzisen Diagonalbälle waren integraler Part des Spielaufbaus in den letzten Monaten. Holger Badstuber ist ebenfalls ein physisch präsenter Innenverteidiger, der aber über hohe Spielintelligenz und ausgereiftes Passspiel verfügt.
Die Zeit der Hünen mit Hüftsteife scheint zumindest auf allerhöchstem Niveau abzulaufen. Dennoch dürfte es die Bayern freuen, dass mit Benatia zumindest ein Innenverteidiger zurückkehrt.
Der Autor ist Taktikexperte beim Internetportal www.spielverlagerung.de.
Constantin Eckner