Deutschland zittert sich ins Achtelfinale: Fast gestrauchelt – doch jetzt geht's gegen England
Deutschland müht sich in einem dramatischen Spiel zu einem 2:2 gegen Ungarn. Die Mannschaft von Trainer Löw enttäuscht – und zieht doch in die nächste Runde.
Der Himmel über Fröttmaning war tiefschwarz eingefärbt. Blitze zuckten. Es donnerte und stürmte. Der Regen prasselte unaufhörlich hernieder und knallte mit einer solchen Wucht auf das Stadiondach, dass man das eigene Wort kaum hören konnte. Die Kulisse in der Münchner Arena, die eigentlich in bunten Farben hätte ausgeleuchtet hätte werden sollen, hatte etwas zutiefst Bedrohliches. Das galt im übertragenen Sinne auch für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft, die sich nach dem rauschhaften Sieg gegen Portugal vom Wochenende schon auf direktem Wege ins Achtelfinale der Europameisterschaft gewähnt hatte. Doch die Deutschen wandelten am Abgrund, sie wankten, aber sie fielen nicht.
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Zweimal gerieten sie in Rückstand, am Ende aber schafften sie durch einen Treffer des eingewechselten Leon Goretzka kurz vor Schluss ein glückliches 2:2 und konnten damit das Vorrundenaus gerade noch abwenden. Im Achtelfinale geht es nun am Dienstag im Wembleystadion gegen England. In der ersten Halbzeit hatte sich einiges entladen. Nicht nur vom Himmel, sondern auch rund um das Spiel, um das sich vieles aufgestaut hatte. Mitten hinein in die ungarische Hymne vor dem Spiel stürmte ein Flitzer mit wehender Regenbogenfahne über das Spielfeld.
Die deutsche Elf begann stark – und wurde kalt erwischt
Auch die deutsche Mannschaft begann stürmisch. Schon nach drei Minuten fand sich Joshua Kimmich, der im neuen System von Bundestrainer Löw als Außenverteidiger wie ein Außenstürmer spielen darf, nach einem feinen Pass von Mats Hummels in Mittelstürmerposition wieder. Er schaffte es aber nicht, den Ball an Ungarns Torhüter Peter Gulacsi vorbeizubringen.
Nachdem er in den beiden Gruppenspielen zuvor jeweils mit derselben Elf begonnen hatte, sah sich Löw diesmal zu einer Änderung gezwungen: Thomas Müller saß mit seiner Knieblessur nur auf der Bank und wurde von seinem Münchner Teamkollegen Leroy Sané ersetzt.
Das System blieb das gleiche; dass es nicht so funktionierte wie gegen die Portugiesen, lag vor allem an den Ungarn, die mit einer Fünferkette verteidigen. Selbst wenn die Außenverteidiger Kimmich und Robin Gosens auf die Höhe der offensiven Dreierreihe aufrückten, besaßen die Deutschen keine Überzahl, die sie locker flockig hätten ausspielen können.
Den Außenverteidigern fehlten die Anschlussoptionen, und so konnten sich die Deutschen trotz viel Ballbesitz wenige Chancen erspielen. Völlig unerwartet kam das nach den bisherigen beiden Turnierauftritten der Gäste nicht. Von Gosens, dem Shootingstar des Portugalspiels, war vor der Pause so gut wie gar nichts zu sehen. Löw stellte sein System noch vor der Halbzeit auf ein 4-3-3 um und zog Kimmich von außen in die Zentrale. Aber auch der jetzt völlig durchnässte Rasen machte die Sache nicht einfacher – zumal die Nationalmannschaft seit der elften Minute einem Rückstand hinterherlaufen musste, bereits zum dritten Mal im dritten Spiel dieser EM.
Eine Flanke des Freiburgers Roland Sallai aus dem Halbfeld fand in der Mitte den Mainzer Adam Szalai, der sich zwischen die beiden Innenverteidiger Mats Hummels und Matthias Ginter geschlichen hatte und mit einem wuchtigen Kopfball zur 1:0-Führung der Ungarn traf.
Chancen auf den Ausgleich für die Deutschen waren rar
Es war also genau das eingetreten, was Löw und seine Mannschaft mit aller Macht hatten verhindern wollen – und das nicht nur, weil der Rückstand die Deutschen in der virtuellen Tabelle auf den letzten Tabellenplatz befördert hatte. Verteidigen können die Ungarn. Die Chancen der Deutschen auf den Ausgleich waren rar.
Die beste hatte Hummels. Nach der ersten Ecke für seine Mannschaft wuchtete er den Ball per Kopf an die Latte. Noch in derselben Minute kam Ginter, sein Kollege aus der Innenverteidigung, aus kurzer Distanz zum Abschluss, konnte Gulacsi aber nicht überwinden.
Vor allem die gelernten Offensivkräfte kamen selten in gefährliche Abschlusssituationen. Sané traf bei seinem ersten Startelfeinsatz während des Turniers nicht immer die glücklichsten Entscheidungen, überzeugte aber zumindest durch angemessenen Eifer. Serge Gnabry blieb weitgehend blass. Die meiste Gefahr ging noch von Kai Havertz aus, der zumindest ab und zu eine Idee hatte.
Havertz war es auch, der nach der Pause den ersten Abschluss zustande brachte. Mit seinem Schuss aus der Distanz hatte Gulacsi allerdings wenig Mühe. Der Versuch war bezeichnend für das deutsche Spiel. Der Ball kreiselte rund um den ungarischen Strafraum, aber fand nicht den Weg in ihn hinein. Und im Hinterkopf spukte immer die Furcht vor der Konterstärke der Ungarn. Die beste Nachricht kam in jener Phase aus Budapest, wo im Parallelspiel die Franzosen in Führung gegangen und die Deutschen dadurch auf Platz drei gehüpft waren. Löw aber wollte sich darauf nicht verlassen. Zu Recht.
In Budapest fiel der Ausgleich. Deutschland war wieder Letzter. Die Nationalmannschaft glich aus und sprang auf Platz zwei. Gulacsi, der sonst so verlässliche Torhüter der Ungarn, war am Ball vorbeigesegelt, Havertz musste die Kopfballvorlage von Hummels nur noch einnicken.
Im Zickzackkurs durch die Blitztabelle
Im Zickzackkurs ging es durch die Blitztabelle, und urplötzlich stand die deutschen Mannschaft wieder ganz unten. Im Stadion war der Schütze des 1:1 noch nicht vermeldet, die Tormelodie schepperte noch durch die Boxen, da lagen die Deutschen schon wieder hinten. Andras Schäfer legte den Ball per Kopf an Neuer vorbei und traf zum 2:1 für die Ungarn. Löw wechselte Kevin Volland und Jamal Musiala ein. Der junge Münchner leitete mit einem Dribbling den Angriff ein, den Goretzka mit dem Tor zum 2:2 vollendete. Es war die 84. Minute. Genau wie beim bisher letzten Pflichtspiel, in dem sich beide Teams gegenübergestanden hatte. Am 4. Juli 1954, als Helmut Rahn aus dem Hintergrund schoss und das 3:2 erzielte.