Ehrlichkeit, Demut, Respekt: Fahnenträger Timo Boll
Tischtennisspieler Timo Boll wird als Fahnenträger die deutsche Mannschaft ins Olympiastadion von Rio de Janeiro führen. Die von ihm verkörperten Werte sollen andere Sportler zum Nachahmen bewegen.
Timo Boll hat unzählige Turniere gewonnen, er ist Rekord-Europameister, er war die Nummer eins der Tischtennis-Weltrangliste. Aber im größten Moment seiner Sportlerlaufbahn wird er keinen Schläger in der Hand halten, sondern einen langen Stock. Bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele am Freitag in Rio de Janeiro wird er die deutsche Fahne ins Stadion tragen. Am Donnerstag hatte der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) diese Entscheidung verkündet. „Als ich es gestern gehört habe, war ich sprachlos“, sagte Boll im Deutschen Haus am Strand des Stadtteils Barra. „Das ist ein wahnsinniges Gefühl, vielleicht der Höhepunkt meiner Karriere.“
Erstmals war der deutsche Fahnenträger bei Olympischen Spielen durch eine Abstimmung auserkoren worden. Fünf Kandidaten standen zur Wahl, zu je 50 Prozent konnten darüber die Öffentlichkeit und die deutschen Olympia-Sportler abstimmen. Neben Boll standen die Bahnradsprinterin Kristina Vogel, die Vielseitigkeitsreiterin Ingrid Klimke, der Hockeyspieler Moritz Fürste und die Moderne Fünfkämpferin Lena Schöneborn zur Wahl. Sie sollen nun hinter Boll in zweiter Reihe als exponierte Gruppe ins Olympiastadion von Rio einlaufen. 300 000 Menschen beteiligten sich an der Wahl, und auch wenn das genaue Ergebnis geheim blieb, so ließ DOSB-Präsident Alfons Hörmann durchblicken, dass beide Wahlgruppen für Boll votiert hatten.
Bemerkenswert daran ist, dass Timo Boll als einziger der fünf Kandidaten bisher nie Olympiasieger wurde. Dennoch ist er eine gute Wahl. Seine Verdienste speisen sich nicht allein aus seinen Erfolgen bei seinen bisherigen vier Olympiateilnahmen, sondern vor allem aus der Art und Weise, wie er sie errungen hat. Bezeichnend war die Reaktion Bolls auf die freudige Nachricht, die ihm DOSB-Vorstandschef und Chef de Mission Michael Vesper am Vorabend überbracht hatte. „Sein erster Gedanke war: Die anderen hätten es aber auch verdient gehabt“, sagte Vesper. „Natürlich will er gewinnen, aber er hat dabei immer Respekt vor seinen Mitbewerbern. Das ist, was mich und andere an Timo Boll begeistert.“ Zum Beispiel auch die Chinesen. Bei einem WM-Spiel in China hat Boll einmal einen Punkt nach einer Fehlentscheidung zurückgegeben und schied dadurch aus. Im Tischtennis-Riesenreich ist er auch deshalb der populärste Deutsche. Alfons Hörmann schrieb ihm gar das Attribut „völkerverbindend“ zu.
„Ich will nicht nur die Fahne reintragen, ich will auch eine Medaille gewinnen“, sagte Boll
Der DOSB-Präsident entwarf quasi auf der Grundlage von Bolls untadeligem Auftreten eine Art Leitbild für die deutsche Abordnung in Rio. Hörmann nannte es den „deutschen Weg“, den er im Angesicht der Dopingenthüllungen um Russland und andere Nationen skizzierte. Die 423 deutschen Sportlerinnen und Sportler sollten demnach Bollsche Werte wie Ehrlichkeit und Demut leben, Haltung bewahren, Gegnern mit Respekt begegnen, den Sieg nicht um jeden Preis erringen wollen. „Das ist aus unserer Sicht wichtiger als die eine oder andere Medaille mehr“, sagte Hörmann. „Timo Boll ist nicht nur der Fahnenträger, sondern der Markenbotschafter des Teams Sportdeutschland hier in Rio. Besser hätten wir es nicht erwischen können.“
Der Geehrte stand die Lobeshymnen in der ihm eigenen Bescheidenheit durch. Er bedankte sich bei allen, die ihn gewählt hatten. Boll machte aber auch klar, dass er sich mit einer Rolle als Botschafter oder Maskottchen nicht zufrieden gibt. „Ich will nicht nur die Fahne reintragen, ich will auch eine Medaille gewinnen“, sagte er. Im Einzel war ihm dieses Glück bei Olympia noch nicht vergönnt.
Fürs Erste aber steht Boll vor einer anderen schweren Herausforderung. Er hat schon mal bei Dirk Nowitzki nachgefragt, was denn da so auf ihn zukommt bei der Eröffnungsfeier. Der Basketballstar hatte die deutsche Fahne 2008 in Peking getragen. „Dirk hat mir gesagt: Du kriegst Probleme, die Fahne ist ziemlich schwer“, sagte Boll und lächelte. „Aber das sollte ich auch als Tischtennisspieler schaffen.“