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Eingezäunte Spiele. Viele erwarten in Alijews Aserbaidschan eine ähnlich kühle Stimmung wie bei Putins Olympia.
© AFP

Europaspiele in Baku: Europas Antwort auf Katar und Sotschi

Menschenrechte, Gigantomanie und zweifelhafter sportlicher Wert: Die Premiere der Europaspiele in Baku ist ziemlich belastet.

Kurz vor der Abreise nach Baku gab es noch Grundsätzliches zu klären. „Wie nennen wir die jetzt? European Games? Nein, Europaspiele, oder?“, fragte Michael Vesper beim Sommerfest der Sportler in Kienbaum letzte Woche in die Runde. Nicht nur der Vorstandschef des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) hat noch ein paar Schwierigkeiten mit der Einordnung der neuen Sportveranstaltung, die am Freitag in der Hauptstadt Aserbaidschans beginnen wird. Vespers DOSB-Kollegen nickten. Ja, Europaspiele, so heißt das.

Vor der Premiere der europäischen Kontinentalspiele sind noch eine ganze Menge weiterer Dinge fraglich bis fragwürdig. Klar ist, dass sie nach dem Vorbild der Olympischen Spiele ausgetragen werden sollen. Es wird 20 Sportarten geben, 253 Medaillenentscheidungen in zweieinhalb Wochen, rund 6000 europäische Athleten werden anreisen. Doch angesichts vieler anderer Unwägbarkeiten gehen selbst die Handelnden das in aller Eile anberaumte Experiment Europaspiele mit einer ordentlichen Portion Skepsis an. „Ich bin gespannt“, sagt der DOSB-Funktionär Dirk Schimmelpfennig, der die deutsche Sportlerabordnung als Chef de Mission anführen wird. „Ich weiß nicht, was uns in Baku erwartet.“

Politisch motivierte Verhaftungen sind in Aserbaidschan an der Tagesordnung

Auf jeden Fall erwartet ihn eine Diskussion über den sportlichen Sinn und Unsinn dieser neuen Großveranstaltung. Und eine Debatte über den Ausrichter. Denn Aserbaidschan ist nicht nur für Willi Lemke, den Sport-Sonderberater des UN-Generalsekretärs, „ohne Frage eine Diktatur“. Menschenrechte und Pressefreiheit werden je nach Willen des Staatschefs Ilham Alijew ausgelegt, politisch motivierte Verhaftungen sind an der Tagesordnung. Human Rights Watch befürchtet eine Propaganda-Veranstaltung für Alijews Regime. Mehrere Journalisten durften zuletzt nach Angaben der Menschenrechtsorganisation nicht in die ehemalige Sowjetrepublik einreisen, darunter ein Reporter der ARD und des „Guardian“. Auch Amnesty International wurde nach eigenen Angaben die Einreise verweigert. Die Fraktion der Grünen im EU-Parlament hat deswegen zum Boykott aufgerufen. Und so ist das zarte Pflänzchen Europaspiele schon bei seiner Aussaat ein Politikum.

In den höchsten Ebenen der deutschen Politik hält man sich aus dieser Debatte bisher lieber heraus. Dass weder Bundeskanzlerin noch Bundespräsident nach Baku reisen werden, kann man vielleicht als Statement werten. Verbal geäußert haben sich beide zu den Tücken der deutschen Sportmission in Baku, die der Bund mit seinem 500.000-Euro-Zuschuss zur Hälfte mitfinanziert, aber bisher nicht. Immerhin thematisiert der Bundestag am Tag der Eröffnungsfeier die Menschenrechte in Aserbaidschan.

Beim DOSB ist man wenigstens inoffiziell nicht allzu glücklich mit der Ortsauswahl, muss sie aber aus sportpolitischen Gründen irgendwie verteidigen. „Wenn man so ein Event veranstaltet, kauft man sich immer zwei Seiten der Öffentlichkeit ein“, sagt Michael Vesper. „Natürlich ist das einerseits Werbung, andererseits werden dann aber auch die Schattenseiten eines Landes ausgeleuchtet.“ Damit hat das Regime in Baku jedoch nicht nur im eigenen Land große Probleme. Die aserbaidschanische Botschaft in Berlin erklärte in einer Mail kritische Berichte der deutschen Medien, auch die im Tagesspiegel, zu „Bestandteilen einer Schmutzkampagne gegen Aserbaidschan“.

Trotz der schrecklich netten Gastgeber weist der deutsche Sport einen Boykott von sich. „Man darf dem Sport nicht zu viel zumuten, er kann keine Gesellschaftssysteme verändern“, sagt Vesper. Er wirkt dabei sehr routiniert, schließlich kennt er die fachferne Debatte von Olympia in Peking und Sotschi zur Genüge. Der DOSB hat seine Hausaufgaben gemacht. Er billigt seinen Athleten zu, sich in den drei Wochen politisch kritisch äußern zu dürfen. Und Vesper, so viel Selbstverteidigung muss sein, erwähnt auch, dass Aserbaidschan ungeachtet der Menschenrechtssituation auf Rang sieben der wichtigsten Rohöllieferanten Deutschlands liegt. Vesper: „Da kommt ja auch niemand und sagt: Ihr dürft nicht mit denen handeln.“

Nur Baku stand kurzfristig als Gastgeber für die Europaspiele bereit

Natürlich weiß auch Vesper, dass sich Europas Sportfunktionäre die Komplikationen bei der Geburt ihres neuesten Babys selbst eingebrockt haben. Die 50 Mitglieder der Europäischen Olympischen Komitees (EOC), darunter der DOSB, beschlossen Ende 2012, es den anderen Kontinenten gleichzutun. Es gibt die Ozeanienspiele, die Panamerikanischen Spiele, die Asienspiele, die Afrikaspiele – nur die alte Welt hatte keine eigenen Spiele. Das sollte sich ändern. Leider hatten es die Europäer dabei gar zu eilig. Die Vorbereitungszeit war mit zweieinhalb Jahren viel zu knapp; für Olympische Spiele haben die Ausrichter sonst sieben Jahre Vorlauf. Nur Baku, das sich bei zwei erfolglosen Olympiabewerbungen schon heißgelaufen hatte, fand sich als Ausrichter, der Rest winkte ab.

Eigentlich wollten die Europäer auf ihrem Sportfest eine eher traute Atmosphäre verbreiten, „im Grunde als unsere Antwort auf Katar und Sotschi“, wie Vesper sagt. Nun sind sie mit ihrem neuen Sportfest selbst in die Gigantomaniefalle getappt, denn das prahlerischen Regime in Baku ist der denkbar ungünstigste Geburtshelfer. Baku ist Europas Sotschi.

In kürzester Zeit errichtete Aserbaidschan Wettkampfstätten wie das neue Nationalstadion für knapp 70 000 Zuschauer, eine Kampf- und eine Schwimmhalle und ein Athletendorf, die „den olympischen Stätten schon sehr nahe kommen“, wie Dirk Schimmelpfennig erklärt. Die Kosten sind ein Staatsgeheimnis, dürften aber mehrere Milliarden Euro betragen. Auch was die Atmosphäre betrifft, darf man sich auf den kalten Glanz einstellen, der Putins Winterspiele in Sotschi umwehte. „Ich bin erstmal ein bisschen skeptisch, was die Zuschauerresonanz betrifft“, sagt Schimmelpfennig.

Welche sportlichen Wert werden die Europaspiele haben?

Für den dauerhaften Erfolg der Europaspiele wird aber nicht nur die Frage von Bedeutung sein, ob und wie sehr man sich von Alijews Regime vereinnahmen lässt. Von entscheidender Bedeutung ist auch, ob das Sportfest seinen Platz im Wettkampfkalender findet. Mit der Einordnung in die sportliche Relevanzskala tun sich alle Beteiligten ziemlich schwer. Vesper siedelt es schon jetzt irgendwo „zwischen Olympischen Sommer- und Winterspielen“ an. Sein Kollege Schimmelpfennig ist vorsichtiger: „Ich hoffe, dass die Europaspiele in acht Jahren nach den Olympischen Spielen der zweitwichtigste Wettbewerb sind, vergleichbar mit Weltmeisterschaften.“

Wenn die Europaspiele diesen Stellenwert tatsächlich erreichen sollen, dann geht das nur, wenn alle Weltverbände sie mittragen. In Baku ist das noch nicht so. Nur in drei Sportarten (Triathlon, Schießen, Tischtennis) werden direkte Qualifikationsplätze für Rio 2016 vergeben, in sieben weiteren wenigstens Qualifikationspunkte. Die Ansichten über das neue Format sind daher auch unter den Sportlern geteilt. Die kleinen Sportverbände versprechen sich mehr Aufmerksamkeit. „Es ist schön, dass wir auch außerhalb von Olympia mal ein paar Fernsehzeiten bekommen“, sagt Kanu-Olympiasieger Sebastian Brendel. Seine Läufe in Baku werden sogar im deutschen Fernsehen live übertragen, wenn auch nur beim Spartensender Sport 1.

Die großen Sportverbände, die auch gut allein überleben können, sind eher skeptisch bis ablehnend. Die Spitzenschwimmer fehlen ebenso wie die erste Reihe der Leichtathletik, die nur durch einen drittklassigen Teamwettbewerb vertreten sein wird. Die beiden olympischen Kernsportarten zeigten sich bisher wenig begeistert davon, ihre lukrativen Meisterschaften für ein Sammelsportevent zu opfern. Nur wenn die Europameisterschaften zumindest zu einem großen Teil in den neuen Spielen aufgehen wie jetzt schon im Fall Judo, hat die Idee eine Überlebenschance.

Wohin die Reise der Europaspiele nach Baku geht, ist also ziemlich unklar. Und das durchaus wortwörtlich. Geplant war die nächste Ausgabe 2019 in Amsterdam. Die Premiere in Westeuropa sollte die schrillen Begleitumstände von Baku hinter sich lassen, das war auch die Hoffnung des DOSB. Doch am Mittwoch zog die niederländische Regierung die Bewerbung zurück und verwies auf die angespannte Haushaltslage. Die Nachricht ist ein schwerer Rückschlag für das Konstrukt Europaspiele, das sieht auch Christian Klaue so. „Aber es ist kein Rückschlag, der einem Aus für die Idee Europaspiele gleichkommt“, sagt der DOSB-Sprecher. Hinter den Kulissen fallen nun Namen wie die Türkei, Polen und Großbritannien als Alternativen. Auch genannt werden Russland und Weißrussland. Wer weiß, vielleicht finden die nächsten Europaspiele ja dann im echten Sotschi statt.

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