Irrfahrt: Von Island zur EM: „Es war der letzte Tropfen Benzin“
Tomas Örn Sigurbjörnsson wollte mit Vater, Bruder und seinen beiden Söhnen nach Frankreich fliegen. Aus zwei Stunden Flug wurden 31 Stunden Autofahrt – nur für 90 Minuten Fußball.
Tomas Örn Sigurbjörnsson, eigentlich wollten Sie Anfang Juni von Reykjavik nach Frankreich zum Island-Spiel gegen Portugal in St. Etienne fliegen. Sie sind aber zunächst nur bis Stockholm gekommen. Warum?
Ich wollte mit meinen Söhnen und meinem Vater per Gabelflug über Stockholm anreisen. Mein Bruder wohnt dort. Der Plan war, uns mit ihm zu treffen, gemeinsam nach Genf zu fliegen und dann mit dem Auto nach St. Etienne zu fahren. Leider hat aber unsere Fluggesellschaft SLS gestreikt. Weil es auch keine anderen Flüge mehr gab, hieß das für uns vorübergehend: Endstation in Stockholm.
Also haben Sie entschieden, mit dem Auto nach Frankreich zu fahren ...
Wir saßen am Flughafen und überlegten, was wir machen. Klar war nur, dass wir dieses Spiel unbedingt sehen mussten. Für uns Isländer ist diese EM ein historischer Moment, weil unser Team zum ersten Mal bei einem großen Turnier dabei ist. Wir haben den Trip nach Frankreich schon seit vergangenem Oktober geplant. Da konnten wir uns nicht von einem Pilotenstreik aufhalten lassen. Mein Bruder hat dann gesagt, wir könnten auch mit seinem Auto fahren, einem Peugeot 2008. Unser Ziel war erst einmal Kopenhagen. Dort wollten wir dann einen neuen Flug buchen.
Das hat nicht geklappt. Was war los?
Es gab einfach keine Flüge mehr. In zwei Flugzeugen waren noch ein oder zwei Plätze frei. Ich konnte meine Söhne aber nicht alleine fliegen lassen. Sie sind 11 und 15 Jahre jung. Wir haben meinem 66-jährigen Vater vorgeschlagen, er könne vorfliegen. Doch der hat nur gesagt: „Wir fahren alle zusammen mit dem Auto. Los geht’s!“ Also haben wir einige Flaschen Wasser und ein paar Brötchen gekauft. Dann hat sich unser Drei-Generationen-Auto auf den Weg gemacht.
Laut Google Maps braucht man für die knapp 2300 Kilometer lange Strecke ohne Pausen 22 Stunden. Wie lange waren Sie unterwegs?
Wir sind am Montagmorgen um 10 Uhr los und dienstags um 17 Uhr in St. Etienne angekommen. Insgesamt haben wir für die Strecke also 31 Stunden gebraucht. Die längste Pause haben wir übrigens in Deutschland gemacht. Wir haben in einem Motel in Tecklen ... Teckle Land ...
Tecklenburger Land?
Genau, das war es. Dort haben wir drei Stunden geschlafen und etwas gegessen. Dann ging es weiter.
Wie oft haben Sie während der Fahrt gedacht: „Wir verpassen das Spiel“?
Oh, da gab es einige Momente – einen schon relativ früh: Wir waren zu spät an der Fähre von Dänemark nach Deutschland, hätten zwei Stunden warten müssen. Zum Glück gab es aber Probleme beim Ablegen: Das Tor der Fähre schloss nicht richtig. So konnten wir doch noch aufs Schiff. Eine Stunde vor St. Etienne hätte ich das Spiel allerdings fast abgeschrieben.
Wir sind gespannt.
Wir lagen wirklich gut in der Zeit und wären etwa drei Stunden vor Anpfiff am Stadion gewesen. Allerdings mussten wir noch einmal tanken. Das Problem: Die Tankstelle wurde gerade gewartet und war geschlossen. Man sagte uns dort, in 20 Kilometern würde die nächste stehen. Sie kam und kam aber nicht. Wir sind richtig nervös geworden, obwohl uns Isländer eigentlich nichts so schnell aus der Ruhe bringt. Irgendwann, nach 40 Kilometern, erblickten wir dann endlich eine Tankstelle. In den Tank passen eigentlich 45 Liter rein. Wir tankten 45,5 Liter. Also sind wir wirklich auf dem letzten Tropfen angekommen.
Wer selbst schon einmal so lange im Auto saß, der weiß, dass so eine Fahrt nach einiger Zeit nicht mehr wirklich lustig ist. Es stinkt, man kann nicht richtig schlafen, ist genervt. Wie war das bei Ihnen?
Natürlich nicht anders. Wir sind aber zum Glück eine Familie und wussten damit umzugehen. Ich habe meinen beiden Jungs und meinem Vater schon vor der Abfahrt in Kopenhagen gesagt: „Das wird hart. Wollt ihr das wirklich?“ Weil wir aber alle das Spiel sehen wollten, gab es keine Alternative. Der Schlüssel zum Erfolg war, stets positiv zu bleiben und an ein Happy End zu glauben. Die Rückfahrt war schon entspannter, weil wir keinen Zeitdruck mehr hatten.
Wie lange haben Sie für den Rückweg gebraucht?
Wir sind am Donnerstagmorgen um 6 Uhr losgefahren und waren schon nachts in Lund. Das liegt am Südende von Schweden. Freunde haben dort ein Haus, in dem wir übernachten durften. Morgens sind wir dann weiter nach Stockholm und mit dem Flugzeug zurück nach Island.
Was hat Sie der Spaß gekostet?
Etwa 3500 Euro, schätze ich. Zum Glück übernimmt die Fluggesellschaft aber die entstandenen Kosten. Das entschädigt dann doch für den Stress.
Hand aufs Herz: Hat sich der Aufwand für 90 Minuten Fußball gelohnt?
Aber sicher! Wir haben das erste Spiel unserer Nationalmannschaft bei einem großen Turnier gesehen – auch noch ein Unentschieden gegen Portugal, eines der besten Teams in Europa! Das bedeutet uns wirklich alles. Außerdem hatten wir eine schöne Tour, von der wir alle noch ein Leben lang erzählen werden. Ich würde jederzeit wieder mit dem Auto fahren, wenn es denn unbedingt sein muss (lacht).
Islands Fans treten bei der EM wie eine einzige große Familie auf. Männer, Frauen, Kinder – alle sind gut gelaunt.
Genauso muss es doch sein. Fußball ist in Island ein Familienereignis. Wir haben keine Hooligans oder extremen Fans, sondern nehmen den Fußball so, wie er ist: als den schönsten Sport der Welt, den man genießen sollte. Wenn ich zu meinem Heimatverein KR Reykjavík gehe, nehme ich meine Söhne mit. Und so ist das auch beim Nationalteam.
Zum Abschluss: Würden Sie sich wieder auf den Weg nach Frankreich machen, falls Island am Montag England besiegt und ins Viertelfinale einzieht?
Das ist leider nicht möglich. Ich muss arbeiten und bin vor zwei Wochen Vater geworden. Ich werde hier in Island gebraucht.
Christoph Küppers
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