Deutsche Bilanz bei Olympia in Rio: "Es ist schwer, aus Magerquark Sahne zu schlagen"
Starke Mannschaften, Schützen, Kanuten, schwache Schwimmer und Fechter: Die deutsche Bilanz in Rio fällt gemischt aus. Jetzt wird über die Sportförderung gestritten.
Jamilon Mülders kam direkt vom Spielfeld, seine Hockeyspielerinnen hatten gerade Bronze gewonnen. Er blicke nach diesem Erfolg doch sicherlich optimistisch in die Zukunft, wurde Mülders gefragt. Die Antwort des Bundestrainers war so eindeutig wie nüchtern: „Nö!“ Der 40-Jährige zählte auf, mit welchen Anstrengungen Mannschaft und Verband auf die Medaille hingearbeitet hätten. Wie schwer es gewesen sei, eine Teammanagerin, einen Athletikcoach, zwei Assistenztrainer und mehrere Physiotherapeuten anzustellen, die teilweise „für’n Appel und’n Ei“ gearbeitet hätten. „Die Hysterie der Olympischen Spiele, die Magie der Ringe, machen Sachen möglich“, sagte Mülders. „Aber nur temporär.“ Er wünsche sich nun bessere Strukturen und auch mehr Geld, um den Erfolg zu sichern. „Denn es ist schwer, immer aus Magerquark Sahne zu schlagen“, sagte Mülders.
Um im Bild zu bleiben: Die deutsche Delegation hat in Rio de Janeiro durchaus Olympische Spiele mit Sahnehäubchen erlebt. Bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe hatten die Athleten des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB) 38 Medaillen gewonnen, 16 davon aus Gold. Das bedeutet Rang sechs im Gesamtmedaillenspiegel und sogar Platz vier, wenn man nur die Olympiasiege zählt. Das Ergebnis kommt der Bilanz von London 2012 nahe, als Deutschland 44 Medaillen gewann, dieses Ziel hatte der DOSB auch für Rio ausgerufen.
„Der Abwärtstrend ist erst einmal gestoppt“, sagte DOSB-Präsident Alfons Hörmann am Samstag durchaus stolz. Laut Dirk Schimmelpfennig ist das sportliche Niveau seit Peking 2008 auf einem stabilen Stand. Der DOSB-Leistungssportdirektor referierte nach einer ersten Kurzanalyse bei der Bilanz-Pressekonferenz der deutschen Mannschaft nüchtern über die Ergebnisse der Teilverbände. Während beispielsweise Schützen, Mannschaftssportarten und Kanuten die Erwartungen mehr als erfüllt hatten, sei man mit anderen Disziplinen nicht zufrieden. Schimmelpfennig erwähnte ausdrücklich Radfahrer, Schwimmer, Fechter und Leichtathleten, im Schwimmen und Fechten habe man eindeutig „den Anschluss an die Weltspitze verloren“. Insgesamt war aber auch Schimmelpfennig durchaus angetan von der deutschen Bilanz.
Im Gegensatz zur Teamleitung äußerten sich viele Sportler sehr kritisch. Henning Lambertz, der Chef-Bundestrainer der Schwimmer, forderte etwa mehr Geld und bessere Strukturen für seine Sportart. Thomas Konietzko, Präsident des Deutschen Kanuverbands, sagte jedoch: „Wenn wir es nicht schaffen, Leistungssport in der Gesellschaft wieder einen anderen Stellenwert zu verschaffen, wird uns auch Geld nicht helfen.“
"Dann gehen wir der Öffentlichkeit wieder am Arsch vorbei"
Gerade die Kanuten vermissen Wertschätzung: „Es ist armselig, was in Deutschland passiert“, sagte Doppel-Olympiasieger Max Rendschmidt. „Wir heben jedes Mal bei Olympia den Medaillenschnitt deutlich an. Und dann gehen wir der Öffentlichkeit wieder am Arsch vorbei.“ Sebastian Brendel drückte es vornehmer aus. „Es geht ja nicht nur den Kanuten so, wann lief denn das letzte Mal Ringen oder Judo im Fernsehen?“, fragte der Olympiasieger. Es fehle am Nachwuchs, „viele Sportarten gehen unter“. Die Verbände und der DOSB als Dachorganisation müssen einen Weg finden, um sich gegen die Übermacht des Fußballs zu positionieren.
Gerade in der kritischen Phase beim Übergang vom Nachwuchs zum Erwachsenenbereich entscheiden sich viele deutsche Talente für den Absprung, weil sie mit einem klassischen Beruf deutlich bessere Perspektiven haben als ein Olympiateilnehmer. „Wir produzieren Juniorenweltmeister in Serie, und später sieht man dann von denen nichts mehr“, sagte Ralf Holtmeyer, der Achter-Bundestrainer im Rudern. Die Ruderer brachten insgesamt nur drei Boote in die Finals. Holtmeyer kritisierte auch die dezentralen Verbandsstrukturen, durch viele Stützpunkte und Trainer gehe viel Potenzial verloren. Bei der angekündigten Neustrukturierung der Spitzensportförderung werden wohl einige Stützpunkte zusammengelegt werden. Bundesinnenminister Thomas de Maizière hatte dies schon vor den Spielen angedeutet. „Wir brauchen im deutschen Sport mehr Zusammenarbeit und deutlich weniger Eifersüchteleien“, hatte er im Tagesspiegel gesagt. Auch Talente sollen künftig „systematischer als bisher“ erkannt und gefördert werden.
Viele Olympiateilnehmer in Deutschland führen ein entbehrungsreiches Leben im Verborgenen. Exemplarisch ist der Fall der Speerwerferin Linda Stahl. Sie gewann in London Bronze, doch für die Vorbereitung auf Rio musste die Assistenzärztin fast ein halbes Jahr unbezahlten Urlaub nehmen und von ihrem Ersparten leben. Für Schimmelpfennig gibt es „keine Alternative zur dualen Karriere“.
An anderen Strukturen und Überzeugungen dürfte jetzt durchaus gerüttelt werden. Der DOSB plantmit den Verbänden, den Bundesländern und dem Bundesinnenministerium eine groß angelegte Reform des Leistungssports, die allerdings erst bei den Spielen 2024 und 2028 erst Früchte tragen dürfte. „Es wäre falsch, die Dinge laufen zu lassen“, sagte Hörmann und kündigte eine Evolution an – „keine Revolution“. Mit de Maizière wolle man zunächst über Strukturen und Konzepte reden und erst dann über Geld. „Wir kehren mit hochgekrempelten Ärmeln nach Deutschland zurück“, sagte der DOSB-Präsident. „Ich verspüre keine Angst, sondern Vorfreude.“ Nicht alle Sportler und Trainer teilen dieses Gefühl.
Christian Hönicke, Lars Spannagel