Romelu Lukaku: Er stürmt und weint für Belgien
Belgiens bulliger Stürmer Romelu Lukaku will sein Team ins Halbfinale schießen. Auch für ein persönliches Ziel trainiert er wie besessen – weil er einem großen Vorbild nacheifert.
Gebt mir einen Ball, fleht der 15 Jahre alte Romelu Lukaku, „ich will hier fünf Stunden spielen!“
Hier, das ist die Stamford Bridge. Heimat des Chelsea Football Club. Sehnsuchtsort Lukakus, hinter dem zu diesem Zeitpunkt längst die halbe Welt her ist. Und der zu diesem Zeitpunkt kurz davor steht, beim RSC Anderlecht seinen ersten Profivertrag zu unterschreiben. Er muss nur noch warten, bis er endlich darf, bis er endlich 16 ist. Und so läuft er noch für das Nachwuchsteam des belgischen Rekordmeisters auf, das im Frühjahr 2009 einen Trip nach London unternimmt. Es ist fast zu viel für ihn, so nah an seinem Traum: „Schaut Euch dieses Stadion an! Der Tag, an dem ich hier das erste Mal spiele, wird der erste Tag sein, an dem sie mich werden weinen sehen. Drüben, in der Heimat. Ansonsten nicht. Niemals!“
Lukaku wollte immer nur eines: Fußballprofi werden
Gefilmt wird der Besuchs Lukakus, weil längst klar ist, dass da einer heranwächst, der anders ist als die anderen. Talentierter. Sehr viel talentierter. „De School van Lukaku“ heißt die mehrteilige Dokumentation, zur besten Sendezeit im belgischen Fernsehen ausgestrahlt. Sie zeigt einen Jungen, der bereits aussieht wie ein Mann. Einen Jungen, der trotz der Millionengehälter, die nur noch einen Grashalm von ihm entfernt liegen, seinen höheren Schulabschluss in Tourismus und PR macht. Und einen Jungen, der dennoch vor allem immer nur eines wollte und will: Fußballprofi werden.
Ein Traum, der ihm bereits in die Wiege gelegt wurde. Lukakus größter Held – sein Vater Roger. Einst Nationalspieler für Zaire, der heutigen Demokratischen Republik Kongo. 1990 vom ivorischen Klub Africa Sports nach Belgien gewechselt, zu Rupel Boom, einem damaligen Viertligisten aus dem Speckgürtel Antwerpens. Dort wird Papa Roger schnell zum Topspieler des Vereins, schießt sie zum Aufstieg. 1993 lockt die erste Liga. Im Jahr von Romelus Geburt.
Mit 13 folgt der Wechsel zu RSC Anderlecht
Mit sechs tritt er erstmals in die Fußstapfen seines Vaters und bei Rupel ein. Boom macht dann auch die Entwicklung des kleinen Romelu Lukaku und der Erstligist Lierse S.K. nimmt das Talent unter seine Fittiche. Weil deren Nachwuchsteams allerdings nicht täglich trainieren, geht Lukaku an den restlichen Tagen noch zu einem zweiten Klub, dem Amateurverein Wintam. Zwei Jahre spielt er für Lierses Jugendteams, erzielt 121 Tore in 68 Spielen. Mit 13 ist es Zeit für den nächsten Schritt, es folgt der Wechsel zu RSC Anderlecht.
Er selbst weiß übrigens haargenau, in welchem Jahr er wie oft getroffen hat. Mit zwölf? „76 Tore in 34 Spielen!“ Er atmet Tore geradezu. Und war von Anfang an nur dies – Stürmer durch und durch. Wegen Papa Roger. Und wegen seinem zweiten großen Idol: Didier Drogba.
"Meine Statur ist ein Geschenk von Gott"
Über den er sagt: „Ich sehe die Qualitäten, die ich habe und sehe mich in ihm. Ich habe die Voraussetzungen, die er hat und möchte unbedingt in seine Fußstapfen treten.“ Das ist sein Antrieb. Deshalb trainiert er wie ein Besessener. Was er übrigens so gut wie gar nicht trainiert, ist sein Körper: „Ich stemme keine Gewichte. Meine Statur ist ein Geschenk von Gott. Als ich 14 war, bin ich mal in den Kraftraum gegangen. Aber ich habe gar nicht richtig gewusst, was ich da tat“, so Lukaku, der sich lieber um den schwächeren rechten Fuß und das trotz seiner 1,92 Meter ausbaufähige Kopfballspiel kümmert.
Um sich in der belgischen Liga durchzusetzen, reicht allerdings schon, was bereits vorhanden ist. Elf Tage nachdem er endlich seinen ersten Profivertrag unterschreiben darf, kommt er zu seinem ersten Ligaspieleinsatz. In der zweiten Partie folgt das erste Tor. Seine erste komplette Saison als Profi beendet er mit 25 Einsätzen und 20 Torbeteiligungen. Als Meister. Als Torschützenkönig. Als 17-Jähriger.
Für eine Saison noch widersteht er den immer verlockender werdenden Angeboten der ganz großen Klubs dieser Welt. Dann folgt der Wechsel. Und obwohl er tapfer behauptet, es müsse nicht der FC Chelsea sein, geht er genau dorthin. Dass ihn vorab Didier Drobga anruft, sich von seinem Fanboy Lukaku eine halbe Stunde lang mit Fragen löchern lässt, dass sein Kindheitsidol ihm mit Nachdruck empfiehlt, an die Stamford Bridge zu wechseln? Hat sicher nicht geschadet.
Und dann schadet es ihm doch. Denn an Drogba und auch Fernando Torres kommt Lukaku in seiner Debütsaison in der Premier League nicht vorbei. Nur acht Kurzeinsätze stehen am Ende zu Buche. Dabei gewinnt er mit Chelsea die großen Titel, nach denen es ihn so giert, gewinnt 2012 die Champions League. Nur fühlt er sich nicht als Teil des Erfolgs: „Im Bus hat Salomon Kalou den Pokal auf meinen Schoß gestellt. Ich habe ihn gebeten, ihn sofort wegzunehmen. Ich wollte ihn nicht berühren, weil ich nichts dafür getan hatte, ihn zu gewinnen.“
Er wechselte für 35 Millionen Euro zu Everton
Als Therapiemaßnahme lässt er sich in der Folge-Saison zu West Bromwich Albion ausleihen. Dort erzielt er mit 17 Saisontoren mehr Treffer als jeder der Chelsea-Stürmer, die ihm in London noch vorgezogen wurden. Und wähnt sich anschließend für einen Großangriff gerüstet: „Mein Ziel ist es noch immer, an der Stamford Bridge zur Legende zu werden.“
Nach zwei Saisonspielen verlässt er den Verein dann jedoch erneut. Wechselt 2013 zunächst auf Leihbasis, 2014 dann für 35 Millionen Euro endgültig zu Everton. Rekordablöse für einen Rekordmann. Er ist einer von nur fünf Spielern, die 50 Premier League-Tore schossen, ehe sie 23 wurden. Und auch in der vergangenen Saison hat er wieder mehr Tore erzielt als irgendein Chelsea-Stürmer.
Im Nationaltrikot, bei seinem zweiten großen Turnier, glänzte Lukaku bisher vor allem im zweiten Gruppenspiel gegen Irland. Mit einem Doppelpack sicherte er seiner Mannschaft quasi im Alleingang drei wichtige Punkte nach der Auftaktniederlage gegen Italien.
Seine Mission bei Chelsea, sagt er indes, sei noch nicht erfüllt. Gut möglich also, dass sie nach einer erfolgreichen EM ein zweites Mal viel Geld für ihn ausgeben, dass sie ihm dann endlich den Ball geben. Nicht nur dann, sondern vielleicht auch schon im Falle des EM-Titels werden sie ihn in der Heimat zum einzigen Mal weinen sehen. Vor Glück.
Ilja Behnisch
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