Turnen: Eine Waffe namens Bretschneider
Andreas Bretschneider galt als Bruchpilot unter den Turnern, dann erfand er das schwerste Element. Es machte ihn zum Star. Aber kann er damit auch seine ersehnte Medaille holen?
Andreas Bretschneider sitzt auf der Turnmatte. Er streicht sich über die Schulter, die nackt ist und doch nicht unbeschwert, und sagt: „Das Ding ist eine Waffe, klar.“
Das Ding. Es ist das schwierigste Element in der Geschichte des Turnens. Er hat es selbst erfunden, nur er hat es bisher in einem offiziellen Wettkampf geturnt. Ein Doppelsalto rückwärts gehockt mit zwei Längsachsendrehungen über die Reckstange, so rasend schnell, dass man es mit dem bloßen Auge kaum sieht, das kann Andreas Bretschneider. Doch eines kann er nicht. „Ich kann das Ding nicht mit dem richtigen Namen nennen, das kriege ich noch nicht auf die Reihe“, sagt er und lächelt. „Das ist ganz merkwürdig. Ich sage dazu Doppeldreher.“ Dabei heißt das Ding: Bretschneider.
Während Andreas Bretschneider redet, prasseln die Regentropfen aus dem grauen Himmel über Kienbaum auf das Dach der neuen Turnhalle des Bundesleistungszentrums. Am Freitag beginnt in Glasgow die Kunstturn-WM, die Männermannschaft hat sich östlich von Berlin zur Vorbereitung eingefunden. Sie hüpfen um die Matte, laufen im Handstand über einen kleinen Hindernisparcours. Es gibt Gejohle, wenn es einer nicht schafft. Fabian Hambüchen, seit einem Jahrzehnt Musterknabe des deutschen Turnens, immer vorneweg, er will die Stimmung trotz der misslichen Lage hoch halten. Es sind lockere Spaßübungen, soll sich bloß keiner mehr verletzen, wo doch ohnehin fast alle angeschlagen sind. Nur Bretschneider macht nicht mit. Er hat gleich zwei verletzte Finger an der linken Hand und wird besonders geschont. Sein Ausfall für die WM wäre ein kleines Desaster.
Der 26-Jährige wird in Glasgow eine besondere Rolle einnehmen. Es könnte eng werden für die malade deutsche Turnequipe, nur die besten acht Mannschaften qualifizieren sich direkt für die Olympischen Spiele. Sein Ding, der Bretschneider am Reck, das sind „Big Points“, wie Hambüchen sagt, wichtig im Kampf um Rio. Bretschneider ist also so etwas wie der WM-Joker der deutschen Turner.
Das ist durchaus bemerkenswert, denn zu Jugendzeiten ließen ihn die Trainer in Chemnitz links liegen, weil sie ihn für wenig begabt hielten. „Aus dem Grund sind ein paar Sachen bei mir liegen geblieben, was Eleganz und Beweglichkeit angeht“, sagt Bretschneider. „Es war nicht klar, ob aus mir überhaupt ein Turner wird.“
Aber er gab nicht auf. „Er war nie das größte Talent, aber er ist ein Kämpfertyp“, sagt sein Trainer Sven Kwiatkowski. „Er ist immer ein bisschen der Durchgeknallte, Verrückte gewesen.“ Bretschneider erkannte früh, dass die Flugelemente seine große Stärke sind, und probierte spektakuläre Dinge außerhalb des Lehrbuchs. Nicht immer mit Erfolg. Sie nannten ihn einen Bruchpiloten, seine Krankenakte verzeichnet einige Knochenbrüche mehr als die eines gewöhnlichen Turners. „Den mussten sie öfter mit blutendem Kopf aus der Halle tragen“, sagt Männer-Bundestrainer Andreas Hirsch.
Turnen ist kein ungefährlicher Sport. Ronny Ziesmer, der deutsche Mehrkampfmeister von 2003, stürzte bei der Vorbereitung auf Olympia 2004 im Training in Kienbaum auf den Kopf und brach sich die Halswirbelsäule, seitdem ist er querschnittgelähmt. Andreas Bretschneider muss auch Ziesmers Schicksal ausblenden, wenn er wieder und wieder seine Gesundheit riskiert und viele kleine und größere Blessuren einsteckt. Bisher ist er immer wiedergekommen. „Es hat mich nicht umgebracht“, sagt er.
Nein, es hat ihn bis in die Nationalmannschaft gebracht. Aber das reicht ihm nicht. Er will eine Olympiamedaille. Weil das auf dem gewöhnlichen Weg für ihn aussichtslos war, erfand er seinen eigenen. Das Ding, die Waffe, den Bretschneider. Eines Tages, kurz nach den Olympischen Spielen in London 2012, die der junge Turner verpasst hatte, „da kam er zu mir und meinte: Ich glaube, ich kann den Kovacs mit zwei Drehungen machen“, sagt Kwiatkowski. „Da habe ich erst mal geschluckt.“ Kwiatkowski war selbst ein Weltklasseturner, er vollführte als einer der Ersten den Kovacs-Salto mit einer Drehung am Reck. Aber mit zwei Drehungen? Die Fachwelt hatte das bis dahin für unmöglich gehalten. „Andreas war aber fest davon überzeugt, dass es möglich ist. Also sind wir es angegangen.“
Ein Jahr lang schmierte Bretschneider regelmäßig ab. Knallte mit dem Körper auf die Stange oder sogar mit dem Kopf. Andere hätten längst aufgegeben. Bretschneider gab nicht auf. Nach einem Jahr und unzähligen blauen Flecken bekam er erstmals die Hand an die Stange. Er hatte sich nicht geirrt. Es war möglich.
Eineinhalb Jahre später konnte er den Doppeldreher stabil genug, um ihn im Wettkampf zu zeigen. Beim DTB-Pokal in Stuttgart Ende 2014 wagte er es. Es war eine kleine Sportsensation. Eine Attraktion, bestaunt wie eine Artistennummer im Zirkus. „Die hat für Aufsehen gesorgt wie ein WM-Titel“, sagt Kwiatkowski.
Die Anerkennung der Kollegen bedeutet Bretschneider viel. „Ich denke, es wird keinen prominenten Reckturner geben, der das nicht probiert hat“, sagt er stolz. Bisher haben nur zwei Japaner außerhalb der Weltklasse den Bretschneider geschafft. „Europäer aber können ihre Masse nicht in dieser Geschwindigkeit rotieren lassen. Man muss leicht, klein und schnellkräftig sein. Da stößt auch Fabian an seine Grenzen.“ Hambüchen hat sich auch am Bretschneider versucht, er landete in der Schaumgummigrube. „Chancenlos“, sagt Bretschneider und feixt.
Aus dem mäßig talentierten Kämpfer Andreas Bretschneider ist ein Turnstar geworden. Und ein Medaillenkandidat. Der Ausgangswert seiner Reckübung erhöhte sich durch sein Element auf 7,4. Nur eine Handvoll Turner auf der Welt turnt am Reck über 7, darunter Hambüchen und der Niederländer Epke Zonderland, der Reck-Olympiasieger von London.
Mit diesen Namen steht Bretschneider nun in einer Reihe. Genauso wie mit Legenden wie Peter Kovacs und Eberhard Gienger, nach denen zentrale Turnelemente benannt wurden. Aber was heißt das schon, in einer Reihe? Er hat sie überflügelt, zumindest im Regelwerk, dem Code de Pointage. Der Bretschneider ist nicht irgendein Element, es ist die Krönung des Turnens an dessen Königsgerät. Er ist so kompliziert, dass der Weltverband eigens dafür den neuen Schwierigkeitsgrad H einführte. Bisher reichte das Regelwerk nur bis G.
Die besondere Schwierigkeit liegt darin, dass der wild rotierende Turner im Gegensatz zu anderen Flugelementen die Reckstange in der Luft nicht sieht. Sie rückt erst in der letzten Zehntelsekunde des Flugs wieder ins Blickfeld. Um die Stange greifen zu können, muss die Flugkurve immer exakt gleich sein. Entscheidend ist der Moment, in dem Bretschneider sich in die Luft schwingt. Die flexible Stange muss er in einem bestimmten Winkel nach unten ziehen und zum richtigen Zeitpunkt loslassen, damit sie ihn im korrekten Winkel hochkatapultiert. Zwei, drei Grad Abweichung reichen schon, „dann haut es nicht mehr hin. Das ist aktuell auch ein bisschen mein Problem“.
Denn Bretschneiders Waffe hat, ausgerechnet vor der WM, Ladehemmung. Im März riss er sich die Achillessehne. Zwar kämpfte er sich in Rekordzeit zurück, doch der Rhythmus war weg, die Erfolgsquote von einst 80 Prozent bei seiner Spezialität sank deutlich. Am Körper liegt es nicht, im Training bekommt er sie hin, trotz der verletzten Finger. Im Wettkampf aber stürzte er zuletzt zweimal ab.
Womöglich liegt das am großen mentalen Druck, den der extreme Schweregrad der Akrobatiknummer aufbaut. „Da muss alles passen, und du musst im Kopf klar sein“, sagt Bretschneider. „Da darf man sich nicht fertigmachen.“ Genau das aber war häufig sein Problem. „Er hatte viele Jahre mentale Probleme im Wettkampf, er war immer zu nervös“, sagt sein Trainer Kwiatkowski. Seit zwei Jahren arbeiten sie mit Mentaltrainern zusammen. Sie halfen ihm auch nach der WM 2014 in China. Damals wollte er den Bretschneider schon zeigen, im letzten Moment ließ er ihn aber weg.
Das hat den Druck für die anstehende WM noch einmal erhöht. „Die ganze Welt wartet darauf, sein Teil zu sehen“, sagt Hambüchen. Bretschneider selbst würde am liebsten so wenig wie möglich darüber reden. Aber das ist schwer, denn das Thema hat in Turnerkreisen eine nationale Bedeutung erhalten und wird innerhalb des Teams offen diskutiert. Soll man ihn fliegen lassen?
0,8 Punkte mehr würde sein Doppelsalto in der Qualifikation bringen, damit würde er dem Team helfen und hätte eine Chance auf eine Einzelmedaille am Reck. Doch wenn es schiefgeht, sind nicht nur die 0,8 Punkte weg, sondern es wird auch noch ein Strafpunkt vergeben. Macht beinahe zwei Punkte Minus. Dann sind gleich fünf deutsche Olympiastartplätze bedroht. Die Entscheidung soll kurz vor dem Wettkampf gemeinsam gefällt werden.
Gegen einen Einsatz spricht neben der gesunkenen Erfolgsquote, dass in Glasgow ein anderes Reck verwendet wird als sonst. Es hat völlig andere Schwung- und Federeigenschaften, Bretschneider nennt es nur „dieses hässliche Ding“. Das ärgert den Chemnitzer, weil eine WM die perfekte Gelegenheit für die Premiere des Bretschneiders auf der großen Bühne ist. Turnen ist subjektiv, da muss man sich einen Namen machen. Die Grundlage im Kopf der Kampfrichter für Olympiamedaillen wird bei einer WM gelegt. Und eine Medaille am Reck will Andreas Bretschneider in Rio de Janeiro unbedingt holen. Dafür bastelt er schon am nächsten Coup, „Bretschneider zwo“. Der wird nicht mehr gehockt vollführt, sondern gestreckt. „Das ist unglaublich viel schwerer“, sagt Bretschneider, „das ist dann Kategorie I.“ Oder, um es mit Fabian Hambüchen zu sagen: „Das ist völlig geisteskrank.“
Ein Video seines neuesten Kunststücks hat Bretschneider bereits auf Facebook veröffentlicht, um die Gegner zu schocken. Und vielleicht auch ein bisschen, um sich selbst zu stärken. Wenn alles gut geht, könnte er Bretschneider 2 bei den Spielen in Rio einsetzen. Er hätte dann vier Flugelemente mit den Kategorien I, H, D und F im Programm. Angesichts dieser Aussichten gerät er ins Träumen: „Mit der Übung katapultierst du dich ganz nach oben, da bist du weit entfernt von allen anderen.“ Und dann schiebt er hinterher: „Aber das ist alles leicht gesagt.“
Bretschneider weiß, dass es für Rio eng wird. Deshalb reicht sein Karriereplan bis Tokio 2020. Bis dahin will er auf jeden Fall noch weiterturnen und seine Spezialelemente durch ständiges Üben noch sicherer hinbekommen. Und wenn es auch bis dahin nichts werden sollte mit der Medaille? Bei dieser Frage erlaubt sich Andreas Bretschneider dann doch noch, ein bisschen stolz auf sich zu sein.
„In 50 Jahren sagen die Leute dann: Wir trainieren jetzt den Bretschneider.“ Er hält kurz inne, der Regen prasselt immer noch auf das Hallendach in Kienbaum, doch das Wort hallt nach. Bretschneider. „Das ist schon ganz geil.“ Andreas Bretschneider lächelt. „Ich jage ja immer dem Erfolg hinterher, aber das ist sicher was für die Ewigkeit.“
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität