Sport: Eine Legende in 100 Tagen
Trainer Lucien Favre geht durch den Klassenerhalt in Gladbachs Geschichte ein
Hermann Jansen ist mit 79 Jahren in einem Alter, in dem man nicht mehr auf den Tischen tanzt, sondern eher die Gemütlichkeit schätzt. Kurz vor dem Ende des Relegationsspiels zwischen Borussia Mönchengladbach und dem VfL Bochum aber sah sich der Aufsichtsratsvorsitzende der Gladbacher genötigt, seine bequeme Sitzhaltung aufzugeben. Andernfalls hätte Jansen nichts mehr sehen können. Vor ihm stand eine blonde Frau, die ihren Borussia-Schal durch die Luft kreiseln ließ. Bei der ausgelassenen Anhängerin handelte es sich um Hannelore Kraft, die Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen. Der VfL-blaue Blazer ließ zwar auf eine Affinität zu den Bochumern schließen, in Wirklichkeit aber ist Kraft seit Jugendtagen Borussenfan. Also stimmte sie ein in den Jubelchor, besang den Klub, den Klassenerhalt und vor allem den Trainer.
Als das Spiel beendet war und die Gladbacher sich durch ein 1:1 in Bochum den Verbleib in der Fußball-Bundesliga gesichert hatten, flog Lucien Favre durch die Luft. Die Gladbacher Spieler schmissen ihn in die Höhe, und sie fingen die kostbare Fracht auch sicher wieder auf. „Ich bin ein besserer Flieger als Tänzer“, sagte Favre. Bei Hertha BSC hat er einmal auf dem Rasen getanzt und sich mitreißen lassen von der guten Laune. Im März 2009 war das, nach einem Spiel gegen Leverkusen. Ganz Berlin träumte in jenen Wochen von der Meisterschaft; am Ende wurde es Platz vier. Nur Platz vier. „Damals war es zu früh zum Tanzen“, sagte Favre am Mittwochabend. „Das war ein Fehler.“
Mit den Gladbachern stimmte das Timing perfekt. Die Mannschaft legte eine Punktlandung hin. Wäre Favre nur eine Woche später gekommen – es hätte vermutlich nicht gereicht. So aber wird der Schweizer als Architekt des jüngsten Wunders in die Vereinsgeschichte eingehen. „Wir haben eine Rückrunde hingelegt vom Allerfeinsten“, sagte Stürmer Mike Hanke. Innenverteidiger Dante wurde gefragt, welchen Beitrag der Trainer an dieser Erfolgsgeschichte gehabt habe. „Ich habe keine Worte“, antwortete der Brasilianer, „alle haben es gesehen.“
Als Lucien Favre Mitte Februar die Nachfolge von Michael Frontzeck antrat, lagen die Gladbacher sieben Punkte hinter dem Relegationsplatz. Die Mannschaft war allenfalls eine Ansammlung von Einzelspielern, die Lage aussichtslos und die Verpflichtung Favres für viele nichts anderes als das Eingeständnis, dass der Klub sich mit dem Abstieg abgefunden hat. Der Konzepttrainer sei schon für den Neuaufbau in der Zweiten Liga engagiert worden, hieß es; zum Retter tauge Favre nicht, weil er Zeit brauche, um einer Mannschaft seine Methoden zu vermitteln. Doch es ging schneller als gedacht – und gerade noch schnell genug.
„Nach drei Wochen war die Mannschaft bereit“, sagte Favre. „Wir waren solide, seriös und schwer zu schlagen.“ In den zwölf Spielen unter seiner Regie holten die Gladbacher 20 Punkte; die löchrigste Abwehr der Liga mutierte zu einem Bollwerk: Nach 56 Gegentoren unter Frontzeck kamen bis zum Saisonende nur noch neun hinzu. „Wir haben viele taktische Dinge gemacht und die Fehler schnell korrigiert“, sagte Favre. Das war auch in Bochum noch einmal notwendig, weil seine Mannschaft mit der Taktik des VfL überhaupt nicht zurechtkam und sie bis kurz vor Ende der ersten Hälfte keinen Zugriff auf das Spiel fand. Erst nach der Pause brachte der Erstligist seine individuelle Überlegenheit deutlicher zum Ausdruck und kam letztlich durch ein wunderbar herausgespieltes Tor von Marco Reus zum verdienten Ausgleich.
Im Gladbacher Borussia-Park hatten 12 000 Menschen das Millionenspiel von der Südkurve aus auf einer Videoleinwand verfolgt, gut drei Stunden nach dem Abpfiff war der Unterrang noch immer komplett besetzt. Es war schon zehn nach eins, als die Spieler auf den Rasen kamen. Roman Neustädter griff sich das Mikrofon. „Gib mir ein H!“, brüllte er. „Gib mir ein U! Gib mir ein Lucien Favre!“ 100 Tage hat der Trainer benötigt, um bei den Gladbachern in den Rang einer Legende zu gelangen. Favre gilt als Hauptverantwortlicher für die wundersame Rettung. Nein, nein, sagt er zu solchen Thesen, und dann lacht er, ein bisschen amüsiert, ein bisschen entrüstet. „Wir haben alle zusammen ein Wunder geschafft.“ Selbst auf der Bühne wahrte Favre noch die Form. „Ich muss mich bedanken bei Ihnen“, sprach er zu den Fans. Wo käme man denn hin, wenn man wildfremde Leute einfach duzt? Später aber hat Lucien Favre sogar ein bisschen getanzt. Ganz am Rand, wo ihn kaum jemand sehen konnte.
Stefan Hermanns
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