Bundesliga-Schiedsrichter in der Kritik: Ein verunsicherter Berufsstand
Alle gegen einen. Nach eklatanten Fehlentscheidungen stehen die Schiedsrichter zum Rückrundenstart unter besonderer Beobachtung.
Der Himmel war blau, der Rasen grün und die Sonne strahlte. War eine ganz schöne Abwechslung zum arktischen Winter in Deutschland und dem Frost, der da am Wochenende erwartet wird, auf dem Thermometer und vielleicht auch im persönlichen Umgang. Eine knappe Woche weilten Deutschlands beste Schiedsrichter zum Trainingslager auf Mallorca, auf dass dieses Qualitätsmerkmal einer breiteren Öffentlichkeit wieder bewusst werden möge. Am Freitag startet die Bundesliga in Hamburg in die Rückrunde, und „wir Schiedsrichter lassen uns nicht unterkriegen“, sagte Herbert Fandel, das werde auch in Zukunft so bleiben, „wir werden die kommenden Spiele mit großem Optimismus und Selbstbewusstsein angehen“.
Für Fandel war es die letzte Dienstreise in den warmen Süden. Am Donnerstag unterrichtete der Vorsitzende der DFB-Schiedsrichterkommission seine Kollegen per Mail darüber, dass er am Ende der Saison zum 1. Juli 2016 die sportliche Leitung der Elite-Schiedsrichterkommission niederlegen werde. Das ist eine Zäsur, und sie trifft wohl nicht ganz zufällig zusammen mit der Krise, in der das deutsche Schiedsrichterwesen in der öffentlichen Wahrnehmung steckt.
Es kam da in der Hinrunde zu einer ungewöhnlichen Anhäufung kapitaler Fehlentscheidungen. Da war Hannovers Siegtor in Köln, das Leon Andreasen mit weit ausgestrecktem Arm erzielte. Die deutliche Abseitsstellung, aus der Wolfsburgs Nicklas Bendtner gegen Leverkusen traf. Der unberechtigte Elfmeter, der Augsburg kurz vor Schluss einen Punkt in München kostete. „Das Problem war, dass diese Entscheidungen alle mehr oder weniger spielentscheidend waren“, sagt Lutz Michael Fröhlich. „Und immer, wenn gerade mal Ruhe war, kam der nächste Rückschlag. Dadurch ist die Diskussion nie richtig abgebrochen.“
Lutz Michael Fröhlich hat bis 2005 selbst Bundesliga- und Länderspiele gepfiffen, seit sieben Jahren ist er hauptamtlicher Leiter der Abteilung Schiedsrichter beim DFB. Er kennt die immer wiederkehrende Debatte, die Verallgemeinerung einzelner Fehler zu einer generellen Krise, die Eigendynamik der öffentlichen Zurschaustellung. Was die Schiedsrichter in der jüngeren Vergangenheit alles zu hören bekamen, lässt sich nur noch mit viel gutem Willen als Kritik bezeichnen. Stilprägend war die provozierende Frage des Mainzer Managers Christian Heidel, „was die Schiedsrichter die ganze Zeit mit ihrem Headset machen. Läuft da die Hitparade?“
Sein Kölner Kollege Jörg Schmadtke brachte den neuen Umgang miteinander auf den Punkt mit der Bemerkung: „Die Schiedsrichter werden immer schlechter und dann sollen wir auch noch Respekt zeigen!“ Gerade erst hat ihn das DFB-Sportgericht für die Beleidigung „Ihr Eierköppe“ zu einer Geldstrafe von 6000 Euro verurteilt.
„Müller, hör auf damit“
Es gab da auch ein kleines Zeichen der Hoffnung im ausklingenden Fußballjahr 2015, eine Expertise des höchsten Experten aller Experten. Im finalen Bundesligaspiel der Hinrunde zwischen Hannover 96 und Bayern München winkte Pep Guardiola an der Seitenlinie Thomas Müller zu sich, den ewig nörgelnden Stürmer, der sich mal wieder einen Disput mit dem Schiedsrichter-Assistenten geliefert hatte. „Müller, hör auf damit“, sprach der Münchner Trainer. „Lass die Leute in Ruhe, das ist unprofessionell!“ Thomas Müller hielt erst einen Augenblick inne und machte dann eine Viertelstunde lang, was er sonst eher selten über einen so langen Zeitraum macht. Er hielt den Mund.
Guardiolas Ansage war eine Geste der Ehrerbietung, wie sie die Schiedsrichter selten erlebt haben in der Bundesliga-Hinrunde. Menschen machen Fehler, Spieler eher mehr als Schiedsrichter, aber bei denen provozieren sie traditionell ein Höchstmaß an Kritik. Wie laut wäre wohl das Geschrei, wenn die Schiedsrichter einmal zurückschlagen würden? Mit vorlauten Eingriffen ins Kerngeschäft der Manager oder Trainer, welche Gurke sie denn da verpflichtet hätten und ob das mit der Doppelsechs und nur einem Stürmer nicht ein besserer taktischer Witz gewesen sei?
Nach jenem Spiel in Hannover, als der Münchner Trainer Pep Guardiola seinen nörgelnden Stürmer Thomas Müller zur Kritik der etwas anderen Art beordert hatte, fuhr Manuel Gräfe weiter nach Mainz. Nicht zu Christian Heidel, um die Sache mit dem Headset zu klären. Sondern ins Aktuelle Sportstudio des ZDF, wo der Berliner Schiedsrichter einen bemerkenswerten Auftritt hinlegte. Über die Herausforderung, ein immer schneller werdendes Spiel 90 Minuten lang im Dauerstress auf Ballhöhe im Auge zu behalten, ohne die Ruhepausen, die sich jeder Spieler mal gönnt. Über die Erwartungshaltung von Spielern, Funktionären und Fans, er möge doch all das in Echtzeit sehen, was ihnen erst beim Studium der zweiten Zeitlupe auffällt. Über all das redete Gräfe sachlich und selbstkritisch, denn natürlich könnten er und seine Kollegen mit der Hinrunde nicht zufrieden sein, „wir haben uns reihum abgewechselt mit den Fehlern“.
Er selbst hat das irreguläre Tor des Wolfsburgers Bendtner verbockt, in der irrigen Ansicht, ein Leverkusener habe den entscheidenden Pass gespielt. Deutlich zu erkennen in der dritten Zeitlupe, nach deren Studium Leverkusens Manager Rudi Völler wutentbrannt die Tribüne hinunter an den Rasen gestürmt kam. Noch so ein Fall veränderter und dem Schiedsrichter unzugänglicher Perspektiven. Und doch mochte Gräfe nicht der Einführung des Videobeweises das Wort reden: „Ich bin aktuell weder dafür noch dagegen, aber es gibt viele praktische Fragezeichen, denn etliche Szenen bleiben eine Auslegungsfrage.“
Auch Lutz Michael Fröhlich findet, „dass man sich dieser Diskussion stellen muss. Viele Fehlentscheidungen sind ja nicht das Produkt falscher Regelauslegung. Sondern weil es der Schiedsrichter einfach nicht besser sieht. Da könnte ein Videobeweis sicherlich hilfreich sein.“
Gräfes Auftritt im Sportstudio schlug jedenfalls Wellen. Auch wegen seiner Äußerungen über die mangelhafte Professionalität, die ihm und seinen Kollegen ihre Arbeit erschweren würde. „Manuel hat das gut gemacht“, sagt Fröhlich. „Ich glaube, da meinte er vor allem die Art der Vorbereitung. Was bedeutet es für einen Schiedsrichter, wenn Mannschaft A mit Viererkette spielt und Mannschaft B mit Dreierkette? Wie muss er sich bei starkem Pressing auf die Zweikämpfe einstellen? Wir arbeiten daran, den Schiedsrichtern dabei verstärkt Vorschläge zur Handhabung zu machen.“
Eher nebenbei erwähnte Gräfe dabei sein Unverständnis darüber, „dass ein Mitglied der Schiedsrichter-Kommission mehr Öl ins Feuer gießt, obwohl Spieler Verständnis zeigen“. Gemeint war offensichtlich Hellmut Krug, der Vertreter der DFL im Schiedsrichter-Ausschuss, er hatte sich nach Gräfes Fehler in Wolfsburg vor laufender Kamera über ihn lustig gemacht.
Derartige Beschwerden häufen sich über den DFL-Mann Krug. Sein Vertrag läuft wie der von Fandel aus und ist noch nicht verlängert worden. Werden die Schiedsrichter von ihrer Leitung gut repräsentiert? Muss man sich wirklich vor jede Kamera und jedes Mikrofon stellen? „Der eine wählt eben die große Bühne, der andere die kleine. Nehmen Sie es mir nicht übel, dass ich das schon aus Gründen der Loyalität nicht kommentieren werde“, sagt Lutz Michael Fröhlich. „Ich persönlich war jedenfalls immer ein Verfechter davon, dass man sich in der Öffentlichkeit bedingungslos hinter die Schiedsrichter stellen muss.“
Die Diskussion geht weiter. Heute in Hamburg, morgen in Berlin, Köln oder Hannover, und sie wird noch lange nicht beendet sein, wenn auch in der Bundesliga der Himmel so blau strahlt wie im Januar auf Mallorca und im Mai der Deutsche Meister gekürt wird.