Die Eisbären im Wandel der Zeit: Ein Berlin, das immer gewinnt
Dynamo. Verschrien, pleite, ein Relikt der DDR. Daraus wurden die Eisbären, der erfolgreichste Eishockeyklub Gesamtdeutschlands – in dem der Osten kaum noch vorkommt. Am Freitag starten die Berliner in die Saison.
Er nennt sich „Papa Eisbär“ und sein rundes Gesicht leuchtet vor Begeisterung, wenn er über seinen Klub erzählen kann. Hartmut Nickel, kantig, weißes Haupthaar, 68, immer noch Ko-Trainer der Eisbären, ist fast 50 Jahre durchweg im Klub. „Was ich hier alles erlebt habe, passt in fünf Bücher. Vielleicht schreibe ich es mal auf“, sagt er. „Aber dafür fehlt mir die Zeit.“ Er lebt für seinen Verein, der mit ihm vom DDR-Nischenmeister zum erfolgreichsten im deutschen Eishockey wurde.
Nickel sitzt im „Wellis“, dem Restaurant neben der großen Eishalle im Sportforum mit dem Wellblechdach, seit Jahren als „Wellblechpalast“ bekannt. Er formt mit den Armen einen Spielertunnel, zeigt auf den Leerraum zwischen den Tischen. „Das hier war der Durchgang der ersten Mannschaft in die Eishalle, noch nach der Wende. Die Spieler mussten durch den Zigarrenqualm der Kneipengäste aufs Eis.“ Damals war die Umkleidekabine der ersten Mannschaft hinter der Gaststätte der Halle. Heute ist die Halle in Berlin-Hohenschönhausen nur noch Trainingsstätte der Profis der Eisbären GmbH. Gerahmte alte Mannschaftsbilder an den Wänden, Eishockeytrikots an der Decke, letzte Ausdünstungen der DDR: Das Lokal atmet die Geschichte des Klubs aus, der vor fünf Jahren auszog, um in der Multifunktionsarena am Ostbahnhof die Massen familientauglich zu unterhalten.
Rotkäppchen-Sekt, Spreewaldgurken, Berliner Pilsner – nach der Wende hat an starken Marken aus der DDR wenig überlebt. Die Eisbären haben noch mehr geschafft, sind große Gewinner der Wende: Sie haben Berlin gewonnen, die größte Verliererstadt. Die Flughafen-Loser, die S-Bahn-Chaoten und die Hertha-Auf- und Absteiger. Die Eisbären sind das Gegenteil, hier wird der Rest der Republik ausgelacht, wenn er vergeblich versucht, die Berliner am Siegen zu hindern. Die Eisbären stehen für ein anderes Berlin. Ein mächtiges Berlin, das fast immer triumphiert. Mit Herz, Leidenschaft und Können.
Mit der belasteten Marke „Dynamo“, dem Namen von DDR-Stasi-Klubs, sind sie in die neue Bundesrepublik gestartet und haben die erfolgreichste Entwicklung eines Sportklubs der DDR nach der Wende genommen. Die Eisbären, eine Thekenmannschaft? Heute undenkbar. Nickel lacht. „Wir sind die Großen, die man erst mal schlagen muss.“ Sieben Mal sind die Berliner in den vergangenen neun Jahren Meister in der Deutschen Eishockey-Liga (DEL) geworden. Ohne Zigarrenqualm im Spielertunnel und seit fünf Jahren auch ohne Buletten für die Fans am Imbiss-Container, sondern vor 14.200 Zuschauern in einer Event-Arena mit blauen Polstersitzen, Fastfood und vor Publikum, das die Musik in den Spielpausen mit Klatschpappen begleitet.
Hätte das Nickel jemand vor 23 Jahren gesagt, „den hätte ich für bekloppt erklärt“. Der aus Weißwasser stammende Nickel war in Berlin Spieler, Cheftrainer, Nachwuchstrainer und ist nun seit Jahren Ko-Trainer. Drei Jahre war er zwischendurch in Hannover. Erst habe das gepasst, dann nicht mehr, sagt er. Anfang der Neunziger hatte er als Ossi in Niedersachsen die Vorurteile gegen sich. „Am Wahltag haben die mich gefragt: Na, haste PDS gewählt? Da habe ich gesagt: Wir können ja zur Kabine gehen und den Wahlzettel aufmachen.“
Der Osten war Markenzeichen der Eisbären. Sie haben polarisiert. Die Fans schwangen Fahnen mit dem DDR-Emblem. Noch heute rufen sie in jedem Spiel nach 30 Spielminuten „Ost-Ost-Ost-Berlin“. Aber das ist mehr Folklore als alles andere, auch wenn es eigene Spieler noch provoziert. Mannschaftskapitän André Rankel sagt, er könne sich schon vorstellen, dass sich Besucher vor den Kopf gestoßen fühlen, wenn sie das hören. „Ostberlin ist total unpassend.“ Rankel ist einer der wenigen Berliner im Profiteam – und stammt aus dem Westbezirk Friedenau. Der letzte Spieler, der aus dem DDR-System in die erste Mannschaft hineingewachsen ist, war Sven Felski. Nach 20 Jahren hat der Junge aus Hohenschönhausen nun seinen Abschied gefeiert. „Wir sind in meiner Zeit ein Gesamtberliner Verein geworden“, sagt er.
Felski war zur Wende noch Nachwuchsspieler, als die Geschichte der Eisbären begann. Bereits vor der Wiedervereinigung starteten die zwei nach Profimaßstäben geführten DDR-Klubs am 14. September 1990 in der Bundesliga. Jahrelang hatten sich Dynamo Berlin und Dynamo Weißwasser in einer Miniliga duelliert. Nickel romantisiert die Zeit nicht. Es war hart, sagt er. Die beiden Dynamos stellten Trainer und Spieler für die DDR-Auswahl – und die musste auf Anordnung von oben auch mal danebenschießen. Da gibt es etwa die Geschichte mit der absichtlich verpatzten Olympiaqualifikation. „Olympia hätte zu viel gekostet und da wir keine Chance auf eine Medaille gehabt hätten, gab es eben vor dem entscheidenden Spiel einen Anruf mit dem Aufruf, zu verlieren“, sagt Nickel. Vom DDR-Sportsystem in einer Nische geduldet, „mussten wir nach der Wende erst mal umschalten auf Profisport“, sagt Nickel. Die anderen Bundesligaklubs hatten ausländische Stars im Aufgebot, die Eisbären versuchten es mit ihrem DDR-Spielerstamm und bekamen tüchtig Prügel. Es gab Trainerwechsel in Serie, es wuchs rund um die ersten Derbys der Dynamos mit dem BSC Preussen Berlin eine innige Feindschaft mit dem Westrivalen und am Ende seiner ersten Saison im neuen Deutschland stieg Dynamo ab.
Nickel führte den Klub eine Saison später wieder nach oben. Das Gesicht des Aufschwungs aber war Lorenz Funk. Bereits 1991 in der ersten Bundesligasaison ging er als Trainer nach Hohenschönhausen, wurde dann Manager. Funk, als Spieler zwei Mal Meister mit dem Schlittschuh-Club, kam als Westberlins Eishockeyidol in den Osten. Beim BSC Preussen war er als Trainer ein paar Jahre zuvor gefeuert worden. Ein Oberbayer in Hohenschönhausen. „Viele haben mich ausgelacht“, sagt er. Funk, heute wieder in seiner Heimat Bad Tölz, erzählt von stinkenden Umkleidekabinen, von verdatterten Ostlern, die seinen Dialekt nicht verstanden, von seiner Arbeit „an der Front von Hohenschönhausen“ und von Arroganz, die im Westen der Republik seiner Mannschaft entgegenschlug.
Unter Funks Regie wurde die Zuschauerkapazität der Halle auf 5000 erweitert. Und unter dem damaligen Präsidenten Helmut Berg wurde aus dem EHC Dynamo 1992 der EHC Eisbären. Der alte Name war bei der Sponsorensuche zu große Hypothek. Die DDR, sagt Funk, war zwar nicht aus allen Köpfen zu bekommen, aber sie sollte nicht überall zu lesen sein. Dank Funk wurde aus dem Prügelknaben der Bundesliga eine erfolgreiche Mannschaft in der 1994 gegründeten DEL. Der Manager nutzte die Chancen des Bosman-Urteils, verpflichtete Spieler aus der ganzen Eishockey-Welt. 1998 wurden die Berliner Meisterschaftszweiter. Mitten in die erste sportliche Hochzeit widmeten die DDR-Altrocker Puhdys den Eisbären ihre Vereinshymne. Inzwischen ist „Hey, wir wollen die Eisbären sehen“ von Moskau bis Amsterdam kopiert worden, und Partyhit am Ballermann. Noch heute spielen die Eisbären ihr akustisches Markenzeichen vor jedem Heimspiel in ihrer Halle.
Doch trotz wachsender Popularität und ersten Erfolgen – der Klub war pleite. „Wir hatten zwar Erfolg, sind aber immer den Schulden hinterhergelaufen, die wir gemacht haben, als wir noch die Loser waren“, sagt Funk. Nickel erinnert sich an Spieler, die nicht aufs Eis wollten, weil ihr Gehalt nicht pünktlich kam. „No money, no game“, habe ihm ein kanadischer Profi erklärt. Ende der Neunziger waren die Eisbären kurz vor dem Exitus, Geschäftsführer Martin Müller musste 17 Insolvenzanträge abwenden. Der Klub lebte von der Hand in den Mund. Zitternd sei er vor einem Auswärtsspiel in den Mannschaftsbus gestiegen, sagt Nickel. „Wir fuhren bis zur Schranke am Parkplatz am Sportforum, gingen zum Pförtner und dort lag ein Umschlag von einem Sponsor.“ Mit Bargeld für die Hotelübernachtung nach dem Spiel. Auf Kredit bot den Eisbären zu dieser Zeit niemand mehr Quartier.
Als die Eisbären "ihr Herz" verkauften
Die Geschichte des DDR-Klubs, der sich zum erfolgreichen Kultklub gemausert hat, wurde ausgerechnet zur Zeit der größten Existenzkrise des Klubs fürs Kino in Pepe Danquarts Film „Heimspiel“ gedreht. Der Film des Oscar-Preisträgers ist ein – gut gemachtes – Märchen. Als er 2000 ins Kino kam, erlebten die Eisbären dafür eine märchenhafte Rettung. Phillip Anschutz, ein ins Sportgeschäft vernarrter Milliardär, kaufte im Sommer 1999 das marode Gebilde und handelte sich geschätzt 16 Millionen Mark an Schulden ein. Aber er wollte es. Der damalige Geschäftsführer Müller sagte: „Der Anschutz kommt hier rein zu den Spielen, isst seine Chips auf der Tribüne und ist von der Stimmung im Wellblechpalast begeistert. Solche Fans kennt der aus Amerika nicht.“ Aber Anschutz hatte natürlich durchgerechnet. Sein Ziel war es, eine Großarena in Berlin zu bauen. Dafür brauchte er die Eisbären als ständigen Mieter – so wie er das schon in Los Angeles im Staples Centre mit dem US-Profiklub Los Angeles Kings praktizierte.
In einem Vip-Raum des Wellblechpalastes hatte Manager Funk 1999 ein gerahmtes Bild mit Franz-Josef Strauß an die Wand gehängt. Nach den Spielen gab es Weißbier und Leberkäse. Doch bajuwarisch-berlinerische Gemütlichkeit und nordamerikanisches Geschäft ergaben keine Schnittmenge. Wenn sich Funk am Telefon mit „EHC Berlin, Funk, grüß Gott“ meldete, erschreckte das die Anschutz-Zentrale. Funk wurde zum Nachwuchsexperten hinunterbefördert und verließ den Klub ein Jahr nachdem Anschutz gekommen war. Andere Funktionäre und einige Spieler mussten auch gehen, es war das Ende der Hohenschönhausener Beschaulichkeit. Verteidiger Leif Carlsson, ein Schwede, sagte damals: „Die Eisbären haben ihr Herz verkauft.“
2012 hat sich Lorenz Funk zum ersten Mal ein Spiel der Eisbären in der Arena am Ostbahnhof angeschaut. Es wurde ihm warm ums Herz. „Ein Mordsspektakel“ sei das heute bei den Eisbären. Feuerwerk unter dem Hallendach vor dem Einlaufen der Spieler, Einspielfilme auf dem Videowürfel und Lichtshow. Funk sagt: „So etwas Gigantisches, das gibt es im Eishockey nur in Berlin.“
Auf der letzten Etappe zu den großen Erfolgen hatte Hartmut Nickel nur noch eine Nebenrolle – als einziger Deutscher im Trainerstab. Die Nordamerikaner übernahmen in der Ära Anschutz: Geschäftsführer Billy Flynn, Manager Peter John Lee, Trainer Pierre Pagé und zuletzt Trainer Don Jackson. Pagé kam 2002 und änderte Strukturen. Er ließ Spielerbeobachter im ganzen Land nach Talenten forsten und förderte den Nachwuchs.
Pagé, erfahrener Mann im internationalen Geschäft, redete als erster Trainer der Eisbären ständig von der Meisterschaft. Nickel sagt zwar, dass Pagé etwas verrückt gewesen sei. „Aber der Erfolg ist mit ihm gekommen.“ Legendär ist Nickels Satz, den er im April 2005 nach dem Gewinn des ersten Meistertitels von sich gab. „Dass wir den Pott gewinnen können, wir roten Socken. Das gibt es nicht.“ 2006 wurden die Eisbären noch mal Meister unter Pagé, der den Klub 2007 verließ.
Die Arena am Ostbahnhof ist heute Komfortzone für die Fans. Dort haben sie unter Pagés noch erfolgreicherem Nachfolger Jackson, einem Eigenbrötler aus Minneapolis, drei ihrer sieben Titel gewonnen. Hohenschönhausen ist weit weg. Am Sportforum an der Konrad-Wolff-Straße verkaufen heute Fachgeschäfte Eishockeyausrüstungen und Fandevotionalien nur noch im Nebengeschäft. Die Fankneipe „Overtime“ gibt es schon lange nicht mehr, die gegenüberliegende einstige Geschäftstelle, ein klotziger DDR-Bau, wird gerade abgerissen. Seit sechs Jahren hat der Klub seine Geschäftsstelle an der Friedrichstraße, bald beziehen die Eisbären neue Büros neben der neuen Arena. Geschäftsführer Billy Flynn sagt: Der Umzug sei der „nächste Entwicklungsschritt“ nach der Etablierung als Gesamtberliner Marke und Klub. „Nun freuen wir uns darauf, dort zu arbeiten, wo wir spielen. Wir werden damit ein Teil eines der aufregendsten Viertel im Herzen Berlins.“
Aufregend? Rund um die monströse O2-World? Ein Parkhaus und erste Hochhäuser rahmen die Halle schon ein, bald kommt ein Einkaufszentrum dazu. Es wuchert pompös aber architektonisch irrelevant im Herzen der Stadt heran. Bei den Eisbären ist es anders. Ihr Publikum ist gesund gewachsen. Die Berliner haben den einstigen Konkurrenten Preussen überlebt. Der dümpelt inzwischen in der Viertklassigkeit herum. Die Eisbären haben Fanklubs von Rostock bis Dresden, sie sind ein kleines Bayern München des Eishockeys. Wenn sie spielen, bewegen sie in ihrer Halle immer um die 14.000 Menschen. „Wir haben uns damals vor dem Umzug schon gefürchtet“, sagt Nickel. „5000 aus dem Welli in die O2 – da bleiben 9000 übrig.“
Die 9000 kommen aus allen Richtungen in die Halle, nach Erhebungen der Eisbären sind rund 40 Prozent des Publikums aus dem Westen, im Wellblechpalast tendierte diese Quote gen null. Siegen ist eben sexy, in einem Berlin, das sonst zu oft verliert. Die Eisbären sind aus dem Osten ausgezogen und in Berlin angekommen. „Das Leben besteht aus Entwicklungen“, sagt Nickel. Die heutige Zeit sei für seinen Verein die beste.
Hartmut Nickel organisiert viel um die Mannschaft herum und steht bei den Heimspielen noch hinter der Bande. Dort gibts es inzwischen noch zwei andere Ko-Trainer – sie stammen wie der neue Cheftrainer Jeff Tomlinson aus Nordamerika.
Am Freitag beginnt die neue Saison in der Deutschen Eishockey-Liga. Favorit auf den Titel sind wieder einmal die Eisbären. Hartmut Nickel wird im November 69 Jahre alt. Auf dem Eis steht er nach seiner Herzoperation beim Training nicht mehr. Es könnte die letzte Saison werden für ihn im operativen Geschäft bei den Eisbären, die mit seinem Rücktritt ihren letzten großen Teil ihrer Ost-Geschichte verlieren werden.
Claus Vetter
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