Abstieg aus der Fußball-Bundesliga: Ein Abschied mit Anstand für den Hamburger SV
Selbst im Abstieg versucht man beim Hamburger SV das Positive zu sehen. Das gelingt auch größtenteils - wären da nicht ein paar unverbesserliche Chaoten.
Felix Brych hielt den Ball in den Händen, neben ihm wartete Julian Pollersbeck, der Torhüter des Hamburger SV, aber die Ausführung des Schiedsrichterballs verzögerte sich aus nachvollziehbaren Gründen. Am anderen Ende des Fußballplatzes stand noch eine knappe Hundertschaft der Polizei auf dem Rasen. Langsam bewegte sie sich Richtung Torauslinie, und als sie schließlich das Tor von Borussia Mönchengladbach frei gegeben hatte, ließ Brych den Ball fallen. Pollersbeck schlug ab, dann beendete der Schiedsrichter – gegen 17.40 Uhr – nicht nur die neunte und letzte Begegnung des letzten Spieltags der Saison 2017/18. Er beendete auch eine Ära im deutschen Fußball. Auf der Digitaluhr im Volksparkstadion standen 54 Jahre 261 Tage 00 Stunden 36 Minuten und 05 Sekunden.
Nach 55 Spielzeiten hat sich das letzte verbliebene Gründungsmitglied aus der Bundesliga verabschiedet. Der Dino ist nun endgültig ausgestorben: Das letzte bekannte Exemplar verstarb am Samstag im ausverkauften Volksparkstadion, nach langem Todeskampf. Zweimal rettete sich der HSV in den vergangenen vier Jahren in der Relegation; diesmal aber gibt es trotz des finalen 2:1 (1:1)-Erfolges gegen Borussia Mönchengladbach keine Gnade mehr – weil der VfL Wolfsburg sein letztes Spiel gegen den 1. FC Köln für sich entschied und dadurch die Relegation erreichte.
Der Schiedsrichterball nach 20 Minuten Unterbrechung war ein abstruses Finale, mit dem die ewige Erstklassigkeit des HSV zu Ende ging – aber anders, als man das noch vor zwei Monaten hätte erwarten können, war es nicht die Mannschaft, die den vielen Abstrusitäten der vergangenen Jahre eine weitere hinzufügte. Es war eine kleine Gruppe von Fans, die für sich in Anspruch nehmen, dass ihnen der Verein über alles geht; die aber wieder einmal bewiesen haben, dass ihnen nur das eigene Ego wichtig ist – und die von diesem Spiel namens Fußball keine Ahnung haben und sich auch nicht im Mindesten dafür interessieren. „Das sind Leute, die alles andere lieben, nur nicht das Spiel“, sagte Max Eberl, Sportdirektor von Borussia Mönchengladbach.
Die Nachspielzeit war gerade angebrochen, als es vor der Nordtribüne, wo Yann Sommer im Tor der Gladbacher stand, zu qualmen und zu knallen begann. Böller flogen auf den Platz, schwarzer Nebel verhüllte die Hamburger Kurve. Gute zehn Minuten ging das so. Zwei Hundertschaften Polizisten zogen auf, sogar sechs Polizisten auf Pferden ritten aufs Feld – und verhinderten möglicherweise Schlimmeres. „Ich würde aus dem Negativen das Positive machen“, sagte Eberl, „und nicht das hervorheben, was 500 Schwachmaten gemacht haben, sondern die Reaktion der 56 500.“
Die 56 500, vielleicht sogar ein paar mehr, begleiteten das asoziale Treiben der Ultras mit wütenden Pfiffen, sie riefen „Wir sind Hamburger – und ihr nicht!" und forderten die Sicherheitskräfte auf: „Holt Sie raus!“ Natürlich passierte das nicht. Die Ultras versteckten sich unter einer schwarzen Blockfahne, zogen sich um und verschwanden dann gruß- und wortlos. „Feiglinge, Feiglinge!“, schallte es ihnen aus dem Rest der Kurve entgegen. Gut 20 Minuten war das Spiel unterbrochen, ehe Schiedsrichter Brych die Begegnung auch formal beenden konnte.
Eine gute halbe Stunde zuvor hatte es ganz anders ausgesehen. Um 17.05 Uhr, als der Abstieg des HSV so gut wie besiegelt war, erhoben sich die Fans von ihren Plätzen. Sie klatschten und sangen: „Von der Elbe bis zur Isar, immer wieder HSV“. In Wolfsburg war gerade das 3:1 gefallen, und beim HSV musste Stürmer Bobby Wood mit Gelb-Rot vom Platz. Eine Mischung aus Stolz und Trotz ergriff den Hamburger Anhang. Die Mannschaft wehrte sich selbst in Unterzahl mit aller Macht gegen einen Ausgleich der harmlosen Gladbacher.
Überhaupt war es durchaus beeindruckend, wie das Team von Trainer Christian Titz seine nur noch minimale Chance zu nutzen versuchte – nicht nur kämpferisch, sondern auch fußballerisch. Als der 47-Jährige vor acht Wochen als Cheftrainer bei den Profis angefangen hatte, da sei es sein Ziel gewesen, „dass wir uns würdevoll und mit Anstand verabschieden“. Das ist dem Team gelungen und war „nicht selbstverständlich“, sagte Titz. In diesem Moment musste er mit den Tränen kämpfen.
Die Hamburger brauchten gegen Gladbach zwar einen Handelfmeter nach Videobeweis, um durch Aaron Hunt in Führung zu gehen. Aber sie spielten Fußball, sie waren mutig, sie suchten die Offensive. Das war auch nach dem zwischenzeitlichen Ausgleich durch Josip Drmic so, der eigentlich demoralisierend hätte wirken müssen. Den Hamburgern fehlten immer mindestens zwei Tore – ein eigenes, eins der Kölner – zum Sprung auf den Relegationsplatz. Und so sicherte Lewis Holtby dem HSV mit seinem Treffer zum 2:1 nach vielen vergebenen Chancen nur noch einen unbedeutenden Sieg.
Aber was heißt schon unbedeutend? Nach dem verspäteten Schlusspfiff näherte sich die Mannschaft der Nordtribüne. Die Fans stürmten von oben an den Zaun, genau in das Loch, das die Ultras hinterlassen hatten. Dann begaben sich die Spieler auf eine Stadionrunde – und wurden gefeiert.