WM 2014: Wirbelbruch im Kolumbien-Spiel: Drama um Neymar: Brasilien verliert seinen Star
Schock für den WM-Gastgeber: Für Superstar Neymar ist das Turnier beendet, er zog sich im Viertelfinalspiel gegen Kolumbien eine Lendenverletzung zu. Im Halbfinale gegen Deutschland fehlen Brasilien damit gleich zwei Leistungsträger.
Natürlich haben sie an der Copacabana gefeiert. Laut und lange und ausgelassen, bei dieser seltsamen Veranstaltung namens Fan-Fest, was weder Deutsch ist noch Englisch und erst recht nicht Brasilianisch und seinen Charme nur bezieht aus der brasilianischen Aussprache: Fanfeschtschi. Beim Fanfeschtschi traten dicke Mädchen auf und ältere Herren. Alle sangen sie und tanzten und freuten sich Brasiliens 2:1-Sieg gegen Kolumbien und den Einzug ins WM-Halbfinale gegen Deutschland. Sie wussten ja nicht, wie dramatisch die Situation war, ein paar hundert Kilometer weiter nördlich, in Fortaleza. Beim Viertelfinale der Copa, wie sie die Weltmeisterschaft in Brasilien nennen.
Die dramatischen Bilder des Abends waren in Copacabana nicht zu sehen, anders als so ziemlich überall sonst in Brasilien. Die Bilder von dem Krankenwagen, der mit quietschenden Reifen vor dem Hospital Sao Carlos von Fortaleza stoppte. Zwei Männer trugen die Trage, auf der nur zwei nackte Füße zu sehen waren und ein Handtuch, es verdeckte das Gesicht und die Tränen des Mannes, der da zur Notoperation gebracht wurde. Eine halbe Stunde später kam die Diagnose, sie war noch deprimierender, als alle befürchtet hatten.
Wirbelbruch beendet WM für Neymar
Neymar da Silva Santos Júnior, der größte Fußballspieler der großen Fußballnation Brasilien, wird sechs Wochen lang nicht mehr Fußball spielen können. Wegen eines Wirbelbruchs, erlitten kurz vor Schluss des Viertelfinales. Nach einem Kung-Fu-Sprung des Kolumbianers Juan Zuñiga, mit reichlich Anlauf von hinten in Neymars zartes Kreuz. Die brasilianischen Zeitungen veröffentlichten Diagramme, sie zeigten Neymars Wirbelsäule unter besonderer Berücksichtigung des gebrochenen und vom Becken aus gesehen dritten Lendenwirbels.
Zuñiga drehte sich ab und hob beschwichtigend die Hände, wie das Fußballspieler heutzutage so tun. Keine Geste der Entschuldigung, warum auch, es musste ja eine brenzlige Situation im Niemandsland entschärft werden, irgendwo zwischen Mittellinie und Strafraum. Es gab auch keine Gelbe Karte, anders als bei einem absichtlichen und natürlich furchtbar verwerflichen Handspiel im selben Niemandsland. „Als ich in den Zweikampf gegangen bin, habe ich mir nichts Böses gedacht“, sage Zuñiga später und hoffte, natürlich mit höchstmöglicher Hilfe, „dass er sich dank Gottes Hilfe wieder erholt.“
Ja, Neymar wird sich wieder erholen, aber eben nicht mehr während dieser WM. Die Verletzung des besten Spielers drückte die Stimmung auf ein Niveau, wie es bei einer Niederlage kaum niedriger hätte sein können. Aus dem Stadion von Fortaleza übertrug das brasilianische Fernsehen noch Stunden nach Spielschluss vor menschenleeren Tribünen Bilder von verzweifelten Moderatoren, die Antworten suchten und doch nur neue Fragen fanden. Zugeschaltet wurde Luiz-Felipe Scolari, Brasiliens sonst so positiv denkender Trainer. Felipao, der große Felipe, mühte sich mit bescheidenem Erfolg um Zuversicht und Gelassenheit. Er palaverte nicht und lachte nicht und freute sich nicht und war mit seinen Gedanken ganz woanders, im Hospital Sao Carlos. Luiz-Felipe Scolari war traurig.
Thiago Silva: "Zúñiga ist kein schlechter Kerl"
Es wirkte beinahe so, als sei Neymar nicht auf einer Trage abtransportiert worden, sondern auf einer Bahre, und mit ihm gleich die Ambitionen der Seleçao brasileira. Brasiliens Kapitän Thiago Silva kennt Zúñiga aus dem Alltag der italienischen Serie A, „er ist kein schlechter Kerl“, sie haben früher öfter gegeneinander gespielt. Silva für Milan, Zúñiga für Neapel. Anders als der Kolumbianer bekam der brasilianische Kapitän am Freitag eine Gelbe Karte, für ein vergleichsweise harmloses Kreuzen des gegnerischen Torhüters. Egal, der Münchner Dante wird ihn am Dienstag in Belo Horizonte schon irgendwie ersetzen. Als Nebenmann von David Luiz, der gegen Kolumbien ein großartiges Freistoßtor schoss und nach dem Spiel noch auf dem Platz betete. Als Dank für sein Tor oder als Kompensation für den Verlust Neymars? „Wir sind schon sehr von ihm abhängig“, sagte Thiago Silva.
„O Globo“, Brasiliens größte Zeitung, wirkte wie paralysiert und verkündete das Ereignis des Abends in großen Buchstaben und denkbar ungelenk: „Neymar bricht sich einen Wirbel und ist raus aus der WM!“ Was soll nun werden ohne die Ideen, Sprints und Dribblings der Nummer zehn? Brasiliens Fußball ist im dritten Jahrtausend gewöhnlich geworden. Allein Neymar hat zuletzt den Unterschied gemacht. Nicht immer, aber doch so oft, dass die Mannschaft sich immer darauf verlassen konnte und der Gegner vor einer unbekannten Variablen stand. Zur Not zog er immer noch die Aufmerksamkeit der gegnerischen Defensive auf sich, auf dass die Kollegen Oscar, Fred oder David Luiz davon profitieren konnten.
Diese Option ist dahin und mit ihr der Vorteil, den Brasilien auf seiner Seite wähnte. „Wir werden eine Lösung suchen und eine Lösung finden“, sprach Scolari, aber er klang schon mal zuversichtlicher in diesen Tagen der Copa.
Sven Goldmann