Handball-EM in Polen: Dieses Team will den Titel
Bei der Handball-Europameisterschaft in Polen hat die deutsche Mannschaft die Hauptrunde erreicht, am Freitag (18.15 Uhr, ZDF) eröffnet sie diese mit dem Spiel gegen Ungarn. Wir stellen die überwiegend junge und zum Teil unbekannte Auswahl von Bundestrainer Dagur Sigurdsson vor.
Carsten Lichtlein (Torhüter, VfL Gummersbach): „Lütti“, wie ihn seine Kollegen rufen, ist mit 207 Länderspielen der mit Abstand erfahrenste Mann im deutschen Kader. Der 35-Jährige hat zwar noch nicht so recht ins Turnier gefunden, ein Problem ist das aber nicht – weil sein Mitbewerber um den Platz im Tor, Andreas Wolff, bisher überragend gehalten hat. Lichtleins Erfahrungswerte machen ihn als Ratgeber für die Neulinge allerdings unverzichtbar für das Team.
Andreas Wolff (Torhüter, HSG Wetzlar): Der künftige Torhüter des THW Kiel ist die Entdeckung der Europameisterschaft. In den ersten beiden Begegnungen kam der 24-Jährige zwar immer von der Bank ins Spiel, aber das machte ihm offenbar nichts aus: Wolff zeigte spektakuläre Paraden und rechtfertigte die Entscheidung von Bundestrainer Dagur Sigurdsson, der zu Gunsten von Wolff auf die Nominierung des langjährigen Nationaltorhüters Silvio Heinevetter verzichtet hat.
Rune Dahmke (Linksaußen, THW Kiel): Die Linksaußen-Position war vor dem Turnier die größte Baustelle für Bundestrainer Sigurdsson – weil mit Kapitän Uwe Gensheimer und Back-up Michael Allendorf gleich zwei Spieler verletzt ausfielen. Dahmke hat mit seinen 22 Jahren zwar noch nicht die Klasse von Gensheimer, einem der weltbesten Linksaußen, aber seine Anlagen sind außergewöhnlich. Spielt bei der EM genau so wie in der Bundesliga-Hinrunde bei seinem Verein, dem THW Kiel: unbekümmert, selbstbewusst, frech. Ist damit mehr als eine Alternative für die nächsten Jahre.
Christian Dissinger (Rückraum links, THW Kiel): Ist allein schon wegen seiner Position einer der Schlüsselspieler im deutschen Team. Erwischte zunächst einen guten Start ins Turnier, in den beiden Vorrundenspielen gegen Schweden und Slowenien fehlte ihm jedoch die Präzision im Abschluss. In der Deckung kam der 24-Jährige oft den entscheidenden halben Schritt zu spät und kassierte dementsprechend viele Zeitstrafen. Wird sich im weiteren Verlauf der EM steigern müssen, sofern die Deutschen wirklich eine Chance aufs Halbfinale haben wollen.
Finn Lemke (Rückraum links, SC Magdeburg): Erinnert ein wenig an den jungen Volker Zerbe, allein schon wegen seines Gardemaßes von 2,10 Metern. Hat im letzten Jahr von allen Nationalspielern den vielleicht größten Entwicklungsschub gemacht. Im Angriff hält sich der gebürtige Bremer zwar noch auffällig zurück, aber das entspricht genau dem Masterplan von Bundestrainer Sigurdsson. Der Isländer hat die Lemkes Rolle klar definiert: Mit seiner enormen Physis soll er das Zentrum des Abwehrbollwerks bilden, gemeinsam mit Hendrik Pekeler und Erik Schmidt. Macht das spätestens seit dem zweiten Vorrundenspiel gegen Schweden exzellent.
Steffen Fäth (Rückraum links/Rückraum Mitte, HSG Wetzlar): Die Fans der Füchse Berlin dürfen sich freuen – ab Sommer 2016 wird Fäth das Trikot des Bundesligisten tragen. Der 25-Jährige galt vor ein paar Jahren als größtes deutsches Rückraumtalent, mittlerweile ist er über diesen Status hinaus. Bei der EM fehlt im bislang allerdings noch ein wenig Glück beim Torwurf. Dafür weiß er seine Nebenleute gut einzusetzen.
Martin Strobel (Rückraum Mitte, HBW Balingen-Weilstätten): Saß in den ersten beiden Spielen nur auf der Bank, zeigte seine Klasse aber im Match gegen Slowenien. Agierte für einen Spielgestalter unauffällig, was ausdrücklich als Lob zu verstehen ist: leistete sich nur ganz wenige Fehler, lenkte das deutsche Spiel, ohne selbst ständig den Abschluss zu suchen. Die Definition eines Team-Players.
Niclas Pieczkowski (Rückraum Mitte/Linksaußen, TuS N-Lübbecke): Ist vor allem zur EM mitgefahren, weil er als gelernter Mittelmann und Linksaußen Entlastung für Rune Dahmke schaffen kann, den einzigen Linksaußen im Kader. Hat bislang nur sehr überschaubare Einsatzzeiten bekommen, aber das geht einigen anderen Nominierten genau so. Wird aber, wenn die Deutschen noch länger im Turnier bleiben, sicher wieder seine Chance bekommen.
Simon Ernst (Rückraum Mitte, VfL Gummersbach): Ist auf dem Spielfeld bisher kaum in Erscheinung getreten. Durfte lediglich gegen Slowenien ein paar Minuten mitwirken – weil die Konkurrenz auf seiner Position enorm groß ist. Macht allerdings keine Anstalten, sich über seinen Status zu beschweren. Für Ernst gilt das, was für viele seiner Kollegen ebenfalls gilt: Hat seine besten Jahre im Nationalteam noch vor sich. Die EM in Polen ist sein erstes großes Turnier, wenn auch im Moment nur aus der Zuschauerperspektive.
Steffen Weinhold (Rückraum rechts, THW Kiel): Nach dem Ausfall von Kapitän Uwe Gensheimer der unumstrittene Führungsspieler im Team Germany. Tankt sich unter größtmöglichem Einsatz seiner Gesundheit durch jede noch so kleine Lücke und hat das junge deutsche Team immer dann geführt, wenn es ihn am nötigsten brauchte: in engen Phasen. Ist für seine Position eigentlich ein paar Zentimeter zu klein. Macht dieses Defizit mit seiner individuellen Klasse und seinen unvergleichlichen Körperfinten aber wieder wett.
Fabian Wiede (Rückraum rechts/Rückraum Mitte, Füchse Berlin): Musste vor einem Jahr bei der WM in Katar noch zuschauen – weil er ausgerechnet in den Monaten vor dem Turnier eine Schwächephase hatte. Hat sich seine Nominierung für die EM jetzt aber mit beständig guten Leistungen im Trikot der Füchse Berlin verdient. Kommt meist in Unterzahlsituationen aufs Feld und hat genau in diesen Phasen schon wichtige Treffer erzielt. Dürfte der legitime Nachfolger von Steffen Weinhold sein, wenn der Kapitän irgendwann in ein paar Jahren in die Handball-Rente geht.
Tobias Reichmann (KS Kielce, Rechtsaußen): Der einzige Nationalspieler, der sein Geld im Ausland verdient, beim polnischen Spitzenklub Kielce. Macht sich den „Heimvorteil“ bei der EM zu Nutzen und vertritt den verletzten Patrick Groetzki bislang äußerst souverän. Abgesehen von wenigen Fehlwürfen clever, erfolgreich und sehr variabel als Siebenmeterschütze.
Johannes Sellin (MT Melsungen, Rechtsaußen): Hat sich den stilechten Truckerbart leider kurz vor der EM abrasiert – fällt mit seinen langen Haaren aber trotzdem auf, wenngleich er bislang nicht sehr lang gespielt hat. Steht bei jeder gelungenen Aktion seiner Teamkollegen mit geballter Faust an der Auswechselbank. Und wartet geduldig auf seine Einsätze. Erzielte gegen Slowenien aus extrem spitzem Winkel eines der schönsten Tore des Turniers.
Erik Schmidt (TSV Hannover-Burgdorf, Kreisläufer): Eine ebenso mächtige Erscheinung wie Finn Lemke. War vor einem Jahr bei der WM weitestgehend unbekannt, ist mittlerweile aber völlig unumstritten im deutschen Team. Bildet gemeinsam mit Lemke und Hendrik Pekeler abwechselnd den deutschen Mittelblock, der bislang so hervorragend funktioniert – und hat sich auch im Angriffsspiel enorm gesteigert. Besitzt mit seinen 23 Jahren zudem noch enormes Entwicklungspotenzial.
Hendrik Pekeler (Rhein-Neckar Löwen, Kreisläufer): Hat sich in ganz jungen Jahren gern mal länger rumgetrieben als seine Teamkollegen. Ist mittlerweile aber erwachsen und zu einem Leistungsträger geworden. Ebenso zentrales Element im Defensivspiel wie eben Lemke und Schmidt. Nach den Spielen in der Mixed-Zone kaum wieder zu erkennen: ruhig, gelassen, sehr auf seine Wortwahl bedacht. Im Spiel: einfach nur ein Kämpfer.
Jannik Kohlbacher (HSG Wetzlar, Kreisläufer): Zählt Christian Schwarzer zu seinen Vorbildern, weil der „immer alles reingehauen hat, über 60 Minuten“, sagt Kohlbacher. Die volle Distanz war dem 20-Jährigen bisher zwar noch nicht vergönnt bei der EM, aber das andere Attribut Schwarzers ist ihm nicht abzusprechen. Zeigte gegen Slowenien ein richtig starke Leistung. Eine echte Alternative für Pekeler und Schmidt, wenn diese mal eine Verschnaufpause benötigen.