Sport: Die Würdigsten
Langweiliges Tiki-Taka? Im EM-Finale bringen die Spanier wieder Kunst mit Unterhaltung zusammen.
Die Wiese ist leer und das Tor frei und die Kollegen haben gerade anderes zu tun. Also geht Fernando Torres mit Leo und Nora dorthin, wo er gerade ein ganz seltsames Stück Fußballgeschichte zur Vollendung gebracht hat. Zum Tor links neben der Ehrentribüne, der ukrainische Volksheld Andrej Schewtschenko nennt es das Bessarabische Tor, aus Gründen, die lange zurückliegen und die am späten Sonntagabend auch niemanden interessieren, denn Schewtschenko und seine Ukrainer sind lange raus aus dieser Europameisterschaft. Fernando Torres aber ist mittendrin, obwohl er eigentlich nie richtig dabei war. Nora trägt eine Puppe im Arm und Leo ein spanisches Trikot mit der Nummer 9 auf dem Rücken. Schaut mal, scheint Fernando Torres seinen Kindern zu erzählen: Hier ist euer Papa gerade Torschützenkönig geworden.
Wie und warum das so passiert ist, am späten Sonntagabend im Olympiastadion von Kiew, das weiß Torres wohl selbst nicht.
Die Spanier sind ein würdiger Europameister, wahrscheinlich der würdigste, den man sich vorstellen kann. Beim 4:0 am Sonntag im Finale von Kiew haben sie die Italiener nach allen Regeln der Kurzpasskunst zerlegt. Iniesta-Xavi-Iniesta- Silva-Fabregas-Silva-Xavi, die Passfolge der Seleccion war auch aus einiger Entfernung von der Tribüne aus schwer nachzuvollziehen. Wie muss es da erst den armen Italienern ergangen sein? Spaniens Triumph ist auch eine späte Rache des FC Barcelona für die Demütigungen gegen Real Madrid und den FC Chelsea. Im exponiertesten Augenblick widerlegen Barças prägende Figuren Iniesta, Xavi und Fabregas die Kritik, ihr Tiki-Taka sei entschlüsselt und habe sich überlebt. Spaniens Fußball war auch während dieser EM-Tage nie so langweilig, wie er von außen oft gemacht wurde. Aber seinen wahren Furor hat er erst im wichtigsten Augenblick entfaltet. Wer will nach einem 4:0 im Finale noch von einem lustlosen, einem mittelmäßigen Europameister sprechen?
Nach der Siegerehrung schweigen die Lautsprecher für ein paar Sekunden. Keine Rummelmusik, keine Ansagen. Andächtige Stille. Bis in die oberen Reihen des Stadions ist zu hören, wie die aller Sorgen entrückten Spanier im Mittelkreis singen: „Campeones! Campeones!“ So viel Authentizität ist selten im Kommerzsport des dritten Jahrtausends. In diesem Augenblick gewinnt der Fußball ein wenig von der Leidenschaft zurück, die ihm die 15 hilflosen Konkurrenten der neuen, alten, ewigen Campeones über dreieinhalb Wochen oft genug versagt haben.
Begeisterte und begeisternde Spanier – dieses Bild wird bleiben von dieser ersten EM im Osten Europas. Fernando Torres hat dabei eine untergeordnete Rolle gespielt, wenn überhaupt. Zweimal hatte TrainerVicente del Bosque ihn in der Startaufstellung, beim 4:0 über die nicht konkurrenzfähigen Iren, als ihm zwei Tore gelangen und beim 1:0 gegen Kroatien. Viermal ist Torres eingewechselt worden, im Finale gegen die Italiener eine Viertelstunde vor Schluss, aber weil der grandiose Xavi einen seiner grandiosen Momente für Torres aufgespart hat, reicht es noch zu einem unspektakulären Tor, seinem dritten im Turnier. Auf diese Bilanz kommen auch eine Reihe anderer Stürmer, aber keiner mit so wenig Einsatzzeit wie Torres, es sind gerade 189 von 570 für ihn möglichen Minuten, was Platz eins im Torjäger-Klassement bedeutet.
Nach der Arbeit und den Feierlichkeiten auf dem Kiewer Grün ruft König Juan Carlos in der Kabine an und lädt zum Empfang in den Madrider Zarzuela-Palast. „Der König war ganz aufgeregt“, erzählt del Bosque und wagt die Andeutung eines Lächelns. Vicente del Bosque ist nie aufgeregt, jedenfalls nicht beim Fußball. Wenn die spanische Entourage rund um die Bank ein Tor feiert, faltet der massige Trainer ungerührt die Arme vor der Brust, und niemand wagt es, diesen Monolith im Meer des Jubels auch nur anzustupsen. Del Bosque führt fort, was der greise Luis Aragones vor vier Jahren in der Schweiz und in Österreich begonnen hatte und in Kiew noch lange kein Ende gefunden haben soll. „Wir wollen immer weiter gewinnen, das ist der Geist dieser Mannschaft“, erzählt Andres Iniesta, der grandiose Einfädler aus Barcelona.
Fernando Torres ist das verbindende Element der spanischen Erfolgsgeschichte. Es ist eine einmalige Erfolgsgeschichte mit drei internationalen Titeln in Folge. Europameister, Weltmeister, Europameister – das hat noch niemand geschafft, und mit Torres hat alles angefangen. Damals in Wien. Vier Jahre ist das jetzt her, der Finalgegner hieß Deutschland. Torres hatte es in diesem einseitigen Spiel irgendwie geschafft, seinen Körper zwischen Philipp Lahm und Jens Lehmann zu bringen, und plötzlich war der Ball drin zum 1:0-Siegtreffer der Spanier. Später hat er sich eine gelbrote Fahne um die Hüfte gebunden und viel geredet von Titeln, was eine überforderte Dolmetscherin damit übersetzte, Torres wolle jetzt der beste Spieler der Welt werden.
Das hat nicht ganz geklappt. Torres wechselte für unfassbar viel Geld vom FC Liverpool zum FC Chelsea, wo er in schöner Regelmäßigkeit auf der Ersatzbank sitzt. Aber das mit den vielen Titeln, das ist bisher doch gut gegangen. Als Ersatzspieler ist Torres vor zwei Jahren in Südafrika Weltmeister geworden. Beim Sieg im Champions-League-Finale über den FC Bayern durfte er ein paar Minuten mitspielen. In Kiew hat er es immerhin schon wieder zum erfolgreichen Joker gebracht.
Champions-League-Sieger, Europameister, EM-Torschützenkönig. Der Ersatzspieler Fernando Torres ist in diesem Jahr nicht der beste, aber der erfolgreichste Fußballspieler der Welt. Das muss gefeiert werden, mit Nora und Leo auf der leeren Wiese von Kiew.
Sven Goldmann
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