zum Hauptinhalt
In Bedrängnis. Die deutschen Basketballer um Paul Zipser (r.) könnten die EM 2017 verpassen. Am Mittwochabend trifft die Mannschaft im vorletzten Qualifikationsspiel auf Österreich.
© imago/Camera 4

Dirk Bauermann im Interview: "Die Werteskala hat sich verschoben"

Der ehemalige Bundestrainer Dirk Bauermann über die Krise der Basketball-Nationalmannschaft, eine verschobene Werteskala bei den Spielern und die Qualität von Trainer Chris Fleming.

Herr Bauermann, nach Niederlagen gegen die Basketball-Entwicklungsländer Niederlande und Dänemark droht die deutsche Nationalmannschaft die EM-Qualifikation zu verpassen. Können Sie sich an eine ähnliche Situation erinnern?

Ich habe nicht das beste Gedächtnis … aber: Nein, daran kann ich mich nicht erinnern. Das ist eine neue Situation, eine neue Herausforderung. Jeder, der es mit Basketball in Deutschland gut meint, sollte alle verfügbaren Daumen drücken, damit die Mannschaft die Kuh vom Eis bekommt, die letzten beiden Quali-Spiele gewinnt und doch noch zur EM fährt.

Was läuft aus Ihrer Sicht falsch?

Natürlich fällt zunächst auf, dass wichtige Leistungsträger nicht spielen. Oder besser gesagt: wieder nicht spielen. Anders als bei den Spaniern oder Serben bedeutet das bei uns sofort eine massive Schwächung.

Haben Sie Verständnis dafür, dass so viele Spieler abgesagt haben, allen voran NBA-Profi Dennis Schröder?

Es ist ja irrelevant, ob ich dafür Verständnis habe. Ich denke aber, dass sich die Spieler über ihre Verantwortung im Klaren sein müssen. Nicht nur für ihre eigene Karriere, sondern eben auch für den Basketball in ihrem Land. Da scheint sich etwas verschoben zu haben.

Wie war es früher?

Ich war acht Jahre lang Bundestrainer und kann mich an eine ähnliche Situation überhaupt nicht erinnern. Da waren alle immer da. Es sei denn, sie waren so verletzt, dass sie wirklich nicht konnten. Früher hat es gereicht, kurz darauf hinzuweisen, dass der Spieler für den Adler auf der Brust alles tun muss. So einfach ist das heute nicht mehr. Wir sehen im Moment offenbar den Höhepunkt einer schleichenden Entwicklung.

Was muss sich ändern?

Es geht darum, Ursachenforschung zu betreiben und Lösungen zu finden. Jeder Spieler hat andere Gründe, man muss sich jeden Einzelfall sehr genau anschauen. Vielleicht findet man einen roten Faden, eine grundlegende Problematik.

Haben Sie einen Verdacht, worin diese Problematik liegt?

Im Entscheidungskompass der Spieler hat sich anscheinend eine Menge verändert. Um das zu ändern, braucht man viel Kommunikation und Wertschätzung. Vielleicht reicht es nicht aus, nur mit den Spielern zu reden, sondern auch mit Agenten und anderen, die an diesen Entscheidungen beteiligt sind. Offensichtlich ist das ein Riesenproblem.

Dirk Bauermann, 58, war von 2003 bis 2011 Basketball-Bundestrainer. Mit Leverkusen und Bamberg wurde er neun Mal Deutscher Meister, zurzeit trainiert er das iranische Nationalteam.
Dirk Bauermann, 58, war von 2003 bis 2011 Basketball-Bundestrainer. Mit Leverkusen und Bamberg wurde er neun Mal Deutscher Meister, zurzeit trainiert er das iranische Nationalteam.
© picture alliance / dpa

Wen sehen Sie besonders in der Pflicht? In der Vergangenheit haben Sie die Doppelfunktion von Chris Fleming als Nationalcoach und Assistenztrainer in der NBA bereits kritisiert.

Die ständige Kommunikation mit den Spielern hat eine hohe Bedeutung. Der erste, der da in der Verantwortung steht, ist der Coach. Natürlich ist es denkbar, dass der Bundestrainer hauptsächlich in den USA arbeitet – solange jemand anderes diesen Part übernimmt, zum Beispiel Assistenzcoach Henrik Rödl. Es wird immer wichtiger, Kontakt zu halten und Beziehungen zu pflegen, auf der menschlichen Ebene. Die Generationen und die persönliche Ansprache ändern sich.

Mangelt es also an Kommunikation?

Ich kenne Chris Fleming als hervorragenden Kommunikator. Ich kann mir gut vorstellen, dass das alles passiert – und trotzdem sind die Spieler nicht gekommen.

Für die Generation um Dirk Nowitzki, Patrick Femerling oder Sven Schultze war es selbstverständlich, im Nationalteam anzutreten. Sind Sie von der aktuellen Generation in dieser Hinsicht enttäuscht?

Man muss einfach konstatieren, dass sich in der Werteskala etwas verschoben hat. Dass anders gewichtet wird als noch vor fünf oder zehn Jahren.

Welche Werte haben denn an Gewicht gewonnen?

Die Fragen sind ja dieselben wie früher: Gehe ich zur Nationalmannschaft? Oder bleibe ich weg, weil mir der Rücken seit Monaten zwickt, ich Urlaub machen will und die anderen das vermeintlich auch ohne mich hinkriegen? Auch früher lagen auf dieser Waage auf der einen Seite Verletzungen und Erschöpfung, sie ist trotzdem immer zur anderen Seite ausgeschlafen: zur Nationalmannschaft. Das hat sich offenbar einfach verändert. Wie kann das sein?

Der bezeichnendste Fall in diesem Sommer war Tibor Pleiß. Der Center verlor seine Anstellung in der NBA, nach drei Qualifikationsspielen verließ er die deutsche Mannschaft, um sich bei NBA-Klubs zu empfehlen. Am Montag kam heraus, dass Pleiß gar nicht in die USA gereist war, stattdessen unterschrieb er bei Galatasaray Istanbul. Wie bewerten Sie dieses Hin und Her?

Ich kenne Tibor sehr, sehr lange. Seit er 16 Jahre alt ist. Er ist ein Kind nicht nur der deutschen Liga, sondern auch des Verbandes. Da ist er groß geworden, er hat in allen Jugend-Nationalmannschaften gespielt, er ist ein unglaublich loyaler und absolut integrer Mensch. Ich glaube, dass er in diesem Fall einer Situation ausgesetzt war, die ihn überfordert hat. Und dass er am Ende auf seinen Agenten gehört hat.

Der Vertrag von Chris Fleming läuft mit dem Ende der Qualifikation aus. Welche Lösung wünschen Sie sich künftig für den Posten des Bundestrainers?

Es ist nicht meine Aufgabe, mir Gedanken zu machen, ob Chris Fleming bleibt oder geht und wer auf ihn folgen könnte. Chris ist ein Trainer allerhöchster Qualität. Es war die hundertprozentig richtige Entscheidung, ihm diese Verantwortung zu geben. Ich weiß, wie er sich im Moment quält. Und ich bin mir sicher, dass er mit den Jungs noch die Kurve kriegt.

Der im Basketball viel beachtete TV-Kommentator Frank Buschmann hat bereits per Facebook den Wunsch geäußert, das deutsche Team möge die EM verpassen, damit das große Aufwachen im deutschen Basketball beginnen könne. Stimmen Sie ihm zu?

Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde. Der Druck und die mediale Aufmerksamkeit sind groß genug, um die möglicherweise notwendigen Prozesse einzuleiten. Ich glaube nicht, dass uns eine EM ohne Deutschland wirklich gut täte. So etwas kann richtig nach hinten losgehen, das muss wirklich nicht sein.

Folgen Sie der Sportredaktion auf Twitter:

Zur Startseite