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Schlag ein. Superstar Gareth Bale (r.) ist einer unter vielen bei den Walisern.
© AFP

Nach Einzug ins EM-Halbfinale: Die Waliser wollen einfach nicht nach Hause

Die Europameisterschaft erfreut alle, die noch an Märchen glauben. Der Siegeszug des Fußballzwergs Wales ist ein Triumph des Teamgeists über die Macht des Gelds.

Don’t take me home, please don’t take me home...

Sie waren so höflich und warteten, bis die armen Belgier den Platz verlassen hatten. Dann begann die Party, aber wie! Auf ihren Bäuchen rutschen die Waliser über den vom Regen aufgeweichten Rasen Richtung Fankurve. Dann ging es weiter zur Tribüne, wo die Wags warteten, die wives and girlfriends. Frauen und Freundinnen reichten Kinder über die Absperrung auf den Fußballplatz, wo die Papas gerade Belgien weggefiedelt hatten, den gar nicht so geheimen Geheimfavoriten dieser Europameisterschaft. Die walisischen Kids bolzten im Strafraum, die Väter tanzten und die Stadionregie hatte ein Gespür für den Zauber des Moments. Jemand stellte die öde Musik vom Band ab, auf dass der walisische Anhang das gesamte Stadion mit seinem zugleich wunderschönen und programmatischen Lied beglücken durfte: Don’t take me home, please don’t take me home!

Nein, noch bringt niemand die Waliser nach Haus. Auch die Belgier haben es nicht geschafft, trotz früher Führung in einem Stadion, das zu 70 Prozent mit ihren Anhängern gefüllt war. „Es war, als würden wir in Brüssel spielen“, sagte der Waliser Trainer Chris Coleman. „Aber unsere Fans waren unglaublich!“ Die Waliser waren weniger, aber sie sangen schöner. Die Namen ihrer Spieler waren in ihrer Prominenz nicht so klanghaft, aber sie hatten Herz und Leidenschaft. Und so kam es, dass die Europameisterschaft in Lille eine Nacht von erhabener Schönheit erlebte.

Wales steht im Halbfinale. Am Mittwoch geht es in Lyon gegen Portugal, das bisher nicht gerade durch großartige Darbietungen aufgefallen ist. Vielleicht geht die Reise für die Briten noch weiter, bevor sie dann wirklich und triumphal heimgeholt werden. Hal Robson-Kanu definiert den Zustand seiner Mannschaft mit der Formulierung: „We are on cloud nine“, was dem walisischen Äquivalent von Wolke sieben entspricht.

Der Stürmer Hal Robson-Kanu steht stellvertretend für den Waliser Ausflug in himmlische Sphären. Er schoss am Freitag das großartige Tor zum vorentscheidenden 2:1, es war der Beweis dafür, dass diese Mannschaft nicht nur verteidigen kann. Mit dem Rücken zum Tor hat er den Ball gestoppt, ihn durch die eigenen Beine und zwischen zwei Belgier geschoben und dann elegant ins Tor gezirkelt. Es war diese Demonstration von Fußballkunst, die den Belgiern bedeutete, dass diese Nacht nicht ihnen gehören würde.

Neun Spieler aus dem Team von Wales sind gebürtige Engländer

Wales ist ein Fußballzwerg. Ein Ländchen, das zwar über die Ausnahmespieler Aaron Ramsey und Gareth Bale verfügt, seine Mannschaft darüber hinaus aus international zweit- und drittklassigen Klubs rekrutiert. Hal Robson-Kanu war in der vergangenen Saison für den englischen Zweitligisten FC Reading nicht mehr gut genug. In Lille hat Wales gewonnen, weil es die bessere Mannschaft war. Trotz der größeren individuellen Qualität auf belgischer Seite. „Wales war uns taktisch überlegen“, befand Belgiens Torhüter Thibaut Courtois.

So etwas ist im großen Geldvermehrungswettbewerb der Champions League nicht mehr möglich. Im Klubfußball werden immer wieder die selben fünf, sechs Mannschaften dominieren, weil sie über Jahre hinweg tagtäglich mit ihrem Personal arbeiten und damit auf ein Niveau kommen, das kein Außenseiter erreichen kann. Die Europameisterschaft kann dieses Niveau nicht bieten, nach einer kräftezehrenden Saison, in der die jeweiligen Trainer Spieler zusammenwürfeln, die im Alltag nicht aufeinander abgestimmt werden können. Bei diesem Turnier kann individuelle Qualität auch schon mal durch außergewöhnlichen Mannschaftsgeist kompensiert werden. So hat Griechenland die EM 2004 gewonnen, so ist Wales am Freitag ins Halbfinale gekommen. „Wir haben gekämpft wie Soldaten“, sagte Trainer Coleman.

Wer gesehen hat, wie der 100 Millionen Euro schwere Superstar Bale am Freitag nach dem zwischenzeitlichen Ausgleich als letzter auf die Traube seiner jubelnden Kollegen sprang, eine Art Stage Diver des Fußballs, der kann die Begeisterung und den Zusammenhalt in dieser Mannschaft erahnen. Der große Gareth Bale tourt seit drei Wochen mit kleinkindlicher Begeisterung durch Frankreich. Alle betonen sie immer wieder, wie stolz sie auf ihr Land sind, dabei sind neun von ihnen gebürtige Engländer. Abwehrchef Ashley Williams hat einen walisischen Großvater, Hal Robson-Kanu eine walisische Großmutter, das reicht schon für die Spielberechtigung. „Aber wir alle wissen nicht nur um unsere gemeinsame Vision, sondern auch um unsere gemeinsame Identität“, sagt Chris Coleman. Auch die englischen Waliser vor jedem Spiel singen laut und begeistert die Nationalhymne „Hen Wlad Fy Nhadau“, altes Land meiner Väter. Die erste Strophe geht so:

Mae hen wlad fy nhadau yn annwyl i mi Gwlad beirdd a chantorion, enwogion o fri; Ei gwrol ryfelwyr, gwladgarwyr tra mâd, Tros ryddid gollasant eu gwaed!

Wer das fehlerfrei intoniert, kann am Mittwoch auch Portugal besiegen. Selbst wenn die Knochen schmerzen, der überragende Spielmacher Aaron Ramsey gesperrt ist und der Verteidiger Ben Davies auch. Die Jungs mit dem grünen Drachen auf dem roten Trikot wollen weiter nach Paris.
Don’t take me home, please don’t take me home...

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