Geschichte eines Romans: Die stillen Helden von Wedding
In England und Amerika ist Hans Falladas Roman „Jeder stirbt für sich allein“ seit einigen Monaten ungeheuer populär. Die Berliner Romanhelden leisteten Widerstand gegen die Nazis. Die Spuren des Ehepaars sind jetzt noch zu finden
Der Justizangestellte Karpe war ein überaus akkurater Mann. Er brachte nicht nur Akten von der Gestapo ins Strafgefängnis Plötzensee, er stoppte sogar die Zeit, die der Scharfrichter für die Hinrichtungen brauchte. 1943 gehörte die „Verkündung der bevorstehenden Vollstreckung des Todesurteils“ gegen einen Mann namens Otto Hampel zu Karpes Obliegenheiten.
Otto Hampel ist zur literarischen Figur geworden, zusammen mit seiner Frau. In Hans Falladas Buch „Jeder stirbt für sich allein“ werden die beiden zu stillen Helden des Widerstands gegen Hitler und die Nazis. Falladas Roman aus dem Jahr 1946 macht seit vielen Monaten eine zweite Karriere: In England und Amerika verkauft er sich hunderttausendfach. Der Aufbau-Verlag hat ihn jetzt in einer Neuauflage wieder veröffentlicht, ergänzt um ein bislang unbekanntes Kapitel – Anlässe genug für eine Suche nach den Spuren von Otto und Elise Hampel im heutigen Berlin.
Der Widerstand der Hampels war still und entschieden gleichermaßen – und eindrucksvoll, weil beide einfache Leute waren, keine Menschen großer Worte. Hampel beschriftete Postkarten mit Sätzen wie: „Es ist dringend notwendig, dass vernünftige Deutsche (!) sich endlich einreihen im Kampfe gegen die kriegsschuldige Hitler Regierung Bande!“ In Weddinger Hausfluren ließ er die Karten liegen – 200 sollen es gewesen sein, lauter stille Akte der Subversion. Die Gestapo kam ihm und seiner Frau durch eine Denunziantin auf die Spur. Am Abend des 8. April 1943 endeten Otto und Elise Hampel unter dem Fallbeil des Henkers in Plötzensee. Der oben erwähnte Justizangestellte Karpe hielt fest, dass der Mann nach 14 Sekunden exekutiert war, die Frau nach 16 Sekunden.
In der Gedenkstätte Plötzensee wird im sogenannten Totenbuch an die Hampels erinnert. In Falladas Buch heißen Otto und Elise Hampel anders – sein Name ist Otto Quangel, ihrer lautet Anna. Und auch das Motiv zum lautlosen Kampf gegen Hitler und sein Regime ist verändert. In Wirklichkeit, bei den Hampels, war es der Tod ihres Bruders an der Front, der die beiden entsetzt und zum Widerstand getrieben hat. In Falladas Roman ist es der Tod des Sohnes Otto.
Überbringung einer Todesnachricht mitten im Krieg: „Die Briefträgerin Eva Kluge steigt langsam die Stufen im Treppenhaus Jablonskistraße 55 hoch. Sie ist nicht etwa deshalb so langsam, weil sie ihr Bestellgang so sehr ermüdet hat, sondern weil einer jener Briefe in ihrer Tasche steckt, die abzugeben sie hasst, und jetzt gleich, zwei Treppen höher, muss sie ihn bei den Quangels abgeben. Die Frau lauert sicher schon auf sie, seit über zwei Wochen schon lauert sie der Bestellerin auf, ob denn kein Feldpostbrief für sie dabei sei.“
Fallada hat aus dem Ehepaar Hampel bekannte Helden gemacht, doch hat er ihre Geschichte in mehr als einem Punkt verändert. Seine Quangels lebten in der Jablonskistraße in Prenzlauer Berg und nicht – wie die echten Hampels – in Wedding. Berlin war damals schließlich schon geteilt, wenn auch nur in Besatzungszonen, und Fallada lebte im kommunistischen Osten. Seine Helden sollten Arbeiter in einem Arbeiterbezirk sein – und Prenzlauer Berg war das östliche Pendant zum Wedding. Von Arbeiterbezirk ist heute in Prenzlauer Berg nichts mehr zu spüren. Das Haus Nummer 55 gibt es ohnehin nicht in der Jablonskistraße – dafür ist diese viel zu kurz. Tatsächlich lebten die Hampels in der Amsterdamer Straße 10 in Wedding. Dort ist noch eher ein letzter Rest von Arbeitergegegend zu spüren. Im geschichtsbewussten Berlin von heute erinnert an diesem Haus eine Tafel an Falladas Helden, auch wenn es nicht der Altbau von damals ist, sondern ein sechsgeschossiger Nachkriegsbau. Das Haus, in dem die Hampels lebten, ist von einer Fliegerbombe zerstört worden. Ein Mann hat sich schon vor über zwanzig Jahren auf die Suche nach der Wirklichkeit in Falladas Roman gemacht. Es ist der Germanist Manfred Kuhnke, ein Gründungsmitglied der Fallada-Gesellschaft und heute 77 Jahre alt. Seine Spurensuche hat er als Buch veröffentlicht. Es heißt „Die Hampels und die Quangels“ und ist viel mehr als eine Studie über „Authentisches und Erfundenes in Hans Falladas letztem Roman“, wie der Untertitel lautet. Es ist die wahre Geschichte von Otto und Elise Hampel, und sie ergreift in ihrer Tristesse nicht weniger als Falladas Buch.
Was aus dem Wohnhaus der Hampels wurde, hat Kuhnke im Gespräch mit einer Zeitzeugin herausgefunden. Sie wohnte gegenüber der Amsterdamer Straße 10 und erzählte dem Spurensucher, bei dem Luftangriff im November 1943 habe es 96 Tote gegeben. „Zu den Opfern gehörten auch die blonde Frau und ihre Kinder, die Hampels Wohnung bezogen hatten. Der Mann war, wie ich mich dunkel erinnere, zur Wehrmacht eingezogen worden“, heißt es in Kuhnkes Buch. Der Verfasser hat die Orte aufgelistet, an denen die Hampels ihre Schriften liegen ließen, um andere zum Nachdenken und vielleicht sogar zur Sabotage zu bewegen. Die Treppenhäuser im Wedding, so erzählt er, hätten noch genauso staubig ausgesehen und gerochen wie zu Lebzeiten des Ehepaars Hampel. Über den anfangs erwähnten Justizangestellten Karpe fand Kuhnke heraus, dass der überzeugte Nazi noch 1946 am Kammergericht Berlin-Mitte diente – als Scharfrichter.
Geschichten hinter der Geschichte des Ehepaars Hampel – Kuhnkes Buch ist voll davon. Dass in Berlin heute an mehreren Stellen an die Hampels, die Quangels und an Falladas Roman erinnert wird, dürfte eng mit Kuhnkes Recherchen zusammenhängen. In der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße erinnern zwei Fotos mit Biografien an das Paar. Zu den Materialien, die der Historiker Johannes Tuchel dort bereithält, gehört das vierzehn Seiten lange Todesurteil gegen Otto und Elise Hampel „im Namen des deutschen Volkes“. Ein Grab haben sie nicht. Kuhnke sagt, die Leichen der Hampels seien „zerschnippelt“ worden. Sie gelangten vom sogenannten Todesschuppen gleich in die Anatomie.
Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein. Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2011. 704 Seiten, 19,95 Euro.
Manfred Kuhnke: Die Hampels und die Quangels. Authentisches und Erfundenes in Hans Falladas letztem Roman. Herausgegeben vom Literaturzentrum Neubrandenburg. Federchen Verlag, Neubrandenburg 2001, 173 Seiten, erhältlich über die Hans-Fallada-Gesellschaft in Carwitz für 13 Euro, www.fallada.de