Der Unfall von Jules Bianchi: Die Sicherheitslücken in der Formel 1
Der schwere Unfall des Franzosen Jules Bianchi war kein schicksalhafter Schlag – er deckt Sicherheitslücken in der Formel 1 auf.
Der Rennsport hat seine eigene Sprache. Eine Bezeichnung, die jeder Pilot kennt, ist „Freak Accident“. Damit werden auch in der Formel 1 meist Unfälle bezeichnet, die im Grunde kein spezielles Muster haben, sondern nur eine Folge: Der Fahrer ist schwer verletzt. Es ist die Erklärung für das Unerklärliche.
20 Jahre lang, seit Ayrton Senna 1994, ist kein Formel-1-Pilot an einem Rennwochenende mehr gestorben. Doch seit dem fürchterlichen Unfall von Jules Bianchi, der in Suzuka in ein Bergungsfahrzeug gerast war, macht sich eine Art kollektive Lähmung in der Rennserie breit. Während der schwer am Kopf verletzte Bianchi am Montag mit dem Tod rang, versuchten seine Kollegen, das Geschehene für sich zu verarbeiten.
Das geflügelte Wort „Freak Accident“, einem nicht vorhersehbaren Unfall, machte dabei die Runde. Dabei ging Bianchis schwerem Crash keineswegs eine Verkettung unglücklicher, schicksalhafter Umstände voraus. Im Gegenteil: Er beruhte auf einer Anhäufung von Nachlässigkeiten, die sich in 20 Jahren der trügerischen Sicherheit eingeschlichen hatten.
Die erste ist das generelle Ansinnen, der Action für den Fernsehzuschauer alles unterzuordnen. Vor drei Jahren hatte der Formel-1-Chefvermarkter Bernie Ecclestone sogar laut über künstlichen Regen an der Strecke nachgedacht, um die Rennen spannender zu gestalten. Für die Quote hat Ecclestone auch die jahrzehntelang unumstößliche Startzeit von 14 Uhr gekippt. In Asien lässt er gern später starten, um den Fernsehzuschauern in Europa entgegenzukommen. Trotz Regenzeit und der frühen Dämmerung ließ Ecclestone in Malaysia schon mal um 17 Uhr starten – das Rennen musste nach weniger als der Hälfte abgebrochen werden.
Auch in Suzuka wurde deswegen erst um 15 Uhr gestartet – angesichts des nahenden Taifuns eine mehr als fragwürdige Entscheidung. „Es war vorhersehbar“, sagte Niki Lauda, der Aufsichtsrat des Mercedes-Teams. „Man hätte um 13 Uhr Ortszeit beginnen können.“ Nicht nur Adrian Sutil war der Meinung, die schlechten Lichtverhältnisse und die einbrechende Dunkelheit könnten zu Bianchis Unfall beigetragen haben. „Der Regen wurde immer schlimmer und es wurde auch immer dunkler. Man konnte nicht erkennen, wo Aquaplaning ist“, sagte der Sauber-Pilot, der eine Runde vor Bianchi an gleicher Stelle verunglückt war.
Vor allem aber deckte Bianchis Unfall eine Sicherheitslücke auf, die im Rennsport bisher nicht geschlossen werden konnte: die Bergung eines havarierten Fahrzeugs. Unfälle mit Pistenpersonal kommen in der Formel 1 in trauriger Regelmäßigkeit vor, meist sind dabei die Streckenposten die Leidtragenden. Dennoch sah man bislang keine Veranlassung, das gängige Procedere zu verbessern.
So gehen die (meist freiwilligen) Streckenposten und Rettungskräfte bei der Bergung eines Wracks immer noch ein großes Risiko ein. Bei mehr oder weniger ungebremst weiterlaufendem Rennbetrieb stehen sie dazu unter enormem Zeitdruck, die Koordination bleibt dabei manchmal auf der Strecke. In Suzuka etwa signalisierte ein Streckenposten mit doppelt geschwenkten Gelben Flaggen große Gefahr – ein Kollege zeigte jedoch mit einer Grünen Flagge kurz dahinter wieder freie Fahrt an, obwohl Sutils Wrack noch gar nicht abtransportiert war.
Ein weiteres Versäumnis ist, dass in den letzten Jahren das Thema der Beachtung Gelber Flaggen recht nachlässig gehandhabt wurde. In Nachwuchsserien kam es immer wieder zu Unfällen deswegen, aber die Formel 1 ging auch nicht mit gutem Beispiel voran. Bei der Qualifikation in Silverstone 2012 missachteten reihenweise Piloten Gelbe Flaggen am Streckenrand – ohne Konsequenzen. Offenbar hatte auch Bianchi sein Tempo kaum gedrosselt, als er die Gefahrenstelle eine Runde nach Sutils Abflug passierte. Dafür spricht, dass der Augenzeuge Sutil den Unfall als „eine Kopie von meinem Crash“ bezeichnete. Eine härtere und konsequentere Regelauslegung wäre hier mindestens notwendig.
Ein radikales Umdenken in dieser Frage fordert Jacques Villeneuve. „Die Safetycar-Regeln müssen geändert werden, da sollte man sich Amerika zum Vorbild nehmen“, sagt der Weltmeister von 1997. „Dort kommt das Safetycar jedes Mal, wenn es einen Unfall gibt, auf die Strecke. Es sollte keinen Spielraum mehr für subjektive Einschätzungen geben.“ Dem Kanadier ist auch klar, dass das bei Fans und Medien nicht unbedingt gut ankommt, weil es zu oft den Rennablauf unterbrechen und auch möglicherweise den Ausgang beeinflussen würde. „Aber zumindest vermeidet man auf diese Weise Unfälle wie den von Jules.“
Villeneuve erinnert sich dabei an seine eigenen Erfahrungen. Er selbst habe nach einem Unfall immer Angst gehabt, „dass ein anderer in mich hineinkrachen könnte“. Das Argument anderer Experten, geschwenkte Gelbe Flaggen müssten reichen, die Fahrer dazu zu veranlassen, von sich aus zu bremsen, lässt er so nicht gelten: „Selbst wenn du abbremst, kannst du immer noch einen Reifenschaden oder einen Radaufhängungsbruch haben.“
Eine weniger radikale Variante könnte ein Tempolimit an Gefahrenstellen ähnlich dem in der Boxengasse sein. In der Langstreckenmeisterschaft VLN wurde in dieser Saison mit einem GPS-System experimentiert, das die Einhaltung von Tempo 60 im betroffenen Streckenabschnitt überwachen soll. Das funktionierte noch nicht einwandfrei, aber in der Formel 1 sollte genügend technische Kompetenz vorhanden sein, um die Kinderkrankheiten dieses Systems zu beheben.
Bianchis Unfall macht außerdem deutlich, dass ausgerechnet das Bergungsgerät eine der größten Gefahrenquellen an der Strecke ist. Während die Sicherheitsstandards für die Strecken kontinuierlich angehoben werden und auch die Rennwagen strenge Crashtests erfüllen müssen, werden Traktoren und Radlader quasi in der Serienvariante auf die Strecken gelassen. Bisher ist niemand auf die Idee gekommen, die tonnenschweren Vehikel zumindest so abzusichern, dass kein Formel-1-Auto unter sie rutschen kann wie Bianchis Marussia am Sonntag.
Christian Hönicke, Karin Sturm