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Viele Läuferinnen mit Essstörungen verstummen, wenn es um ihren Schmerz geht. Das hat auch unser Kolumnist erfahren.
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Tabuthema Laufen und Magersucht: „Die Scham macht stumm“

Unser Kolumnist hat vergangene Woche über Magersucht im Sport geschrieben. Eine Betroffene schildert nun ihr Schicksal. Aber viele andere schweigen.

Wissen Sie, eigentlich laufe ich nur. Ich bin Läufer, wie viele andere auch. Und letzte Woche, da wollte ich einfach nur ein Thema anschneiden, das ein bisschen tabu ist. Ich hatte die Idee, Menschen eine Stimme zu geben, die nur deshalb laufen, weil sie dünner werden wollen. Und sich mehr und mehr in die Magersucht oder Bulimie gelaufen haben. Profis, Hobbyläuferinnen und Läufer, Läufer wie du und ich eben. Mit dem Unterschied, dass sie nicht gesund sind. Ihre Seele ist verletzt. Und diese Verletzung hat viele Gründe und Gesichter.

Ganz bewusst wollte ich nicht der Experte sein, der belehrend den Finger hebt. Ich bin weder Experte, noch gehört die Belehrung zu meinen Charaktereigenschaften. Ich bin Läufer, in meinem Vorleben war ich Journalist. Ich schreibe gerne übers Laufen. Vor allen Dingen aber bin ich Mensch. Und wenn ich Dinge sehe die schmerzen, die nicht richtig sind, die mich berühren, dann kann ich nicht einfach wegsehen.

Deshalb war es mir eine Herzensangelegenheit, das Thema Laufen und Essstörung zum Thema zu machen. Heute vor einer Woche wurde mein Text hier im Tagesspiegel veröffentlicht. Diese Kolumne hat irgendwas ausgelöst. Und ich kann es nicht richtig greifen. Ich meine: Ich bin kerngesund. Aber plötzlich folgen mir unfassbar viele Menschen bei Instagram. Sie sehen alle sehr dünn aus. Zu dünn. Sie folgen still. Sie sind einfach da. Sie folgen mir. Und es scheint so, als ob sie auf ein Zeichen warten. Auf einen weiteren Bericht, auf weiteres Verständnis. Mich erreichen Nachrichten, die sehr sensibel und still sind. Auch wenn das widersprüchlich klingt. Es sind viele, sehr sehr viele Nachrichten gewesen. Von vielen Frauen. Wenigen Männern. „Frauen finden es nicht männlich, wenn Mann über Gewichtsprobleme spricht“, ist die Erklärung dazu von Markus, der ein stiller Betroffener ist. Erschütternd.

Die Stille ist beängstigend

In einer anderen großen Tageszeitung erschien kurz nach meiner Kolumne ein Text über Sport und Magersucht. Die Autorin hat selbst eine ESS (Abkürzung für Essstörung unter den Betroffenen). Ich mag mir das alles nur einbilden. Aber plötzlich wird das Thema überall besprochen. Zufall oder nicht. Ich bin dankbar, dass es so ist. Und bitte - damit wir uns nicht falsch verstehen - es geht NICHT um mich. Ich habe Menschen nur eine Bühne gegeben. Und sie haben das genutzt. Und sie beobachten. Und sie verfolgen, und fragen sich vielleicht gerade, ob sie den Mut haben dürfen. Ob sie sich aus der Stille heraus wagen dürfen.

Aber diese Art der Stille ist beängstigend. Und ich gebe es zu, es ist schwer für mich, mit dieser Stille umzugehen. Mein Vater sagte am Mittwoch zu mir: „Stille ist ein guter Wegweiser zu Deiner Seele“. Er hat mir damit sehr geholfen. Er meinte zunächst mich. Im nächsten Schritt jedoch alle die, die still der ersten Kolumne folgten. Und alle die, die weiter folgen. Danke, Dad! Eine andere Nachricht erreichte mich von Thomas, der diese Kolumne regelmäßig verfolgt: „Sie folgen Dir und hören zu. Sprich für sie mit Deiner Dir eigenen Achtsamkeit und Liebe. Ich wette Du wirst bald mit Ihnen gemeinsam sprechen.“

Viele Betroffene sind nicht fähig, sich zu erklären

So mutig Menschen letzte Woche waren, so still wurden sie in Vorbereitung auf diesen Artikel. Eigentlich wollte ich gerne mehr Betroffene ihre Geschichte erzählen lassen. Wäre gerne einfach der Moderator gewesen, dem sie vertrauen können. Ich war lange Moderator beim Radio, das Moderieren verlernt man nicht. Ich habe nur das Gefühl, dass diese Art der Moderation deutlich sinnvoller ist, als die „größten Hits aller Zeiten im besten Mix“ anzusagen. Egal wen ich fragte, egal wie mutig Sportmagersüchtige im Schutz des Internets waren, gerade nach dem Artikel letzte Woche, so wenig bereit waren sie, sich weiter zu offenbaren. Sie tauchten mitten in der Kommunikation ab. Sie verschwanden. Wie scheue Rehe, die die Lichtung aufsuchten. Für einen kurzen Moment. Um im Schutz der Dunkelheit das saftige Gras zu fressen. Um beim ersten Knacken im Gehölz wieder im Wald zu verschwinden. Und ich hatte nicht den Hauch einer Idee, warum sie das taten.

Ich fragte nach. Und eine wirklich erschütternde Begründung von Bianka erreichte mich: „Die Antwort auf die Stille ist die unerträgliche Scham, dem eigenen Anspruch, dem Anspruch der Gesellschaft nicht zu genügen! Das habe ich damals an der Uni mit meiner besten Freundin vollkommen machtlos miterleben müssen. Die sich trotz Klinik, trotz allem, zu Tode gehungert hat. Wortlos. Trotz Psychologen war sie nicht fähig, sich zu erklären. So sehr hat sie sich für ihr 'Unvollkommen sein' geschämt.“

Wettstreit um das wenigste Körperfett

Bianka hat mit ihrer Botschaft genau das ausgedrückt, das fast hinter jeder Geschichte steht, die ich seit zwei Wochen höre. Der Ursprung beinahe jedes Magersucht oder Bulimie-Schicksals in Verbindung mit dem Sport ist, nicht mehr zu genügen. Nicht okay zu sein. Nicht einem Bild zu entsprechen, das von außen vorgegeben wird. Und machen wir uns nichts vor: Es könnte uns alle treffen. Denn tief in uns prallt der Druck von außen an keinem von uns einfach so ab.

Es ist mir schwergefallen, die Stille zu akzeptieren. Zunächst machte sie mich traurig. Dann wieder wütend. Ich verstand nicht, warum die leicht geöffnete Türe der letzten Woche nicht einfach weiter aufgestoßen wurde. Dann wurde mir jedoch sehr bewusst, dass diese Denke genau der falsche Weg ist. Wer glaubt, dass tief verletzte Menschen durch die Türe gehen, nur weil sie aufgestoßen wurde, der irrt. Man muss gerade all diesen die Möglichkeit geben, selbst zu entscheiden, ob und wann sie diesen Schritt gehen.

Anja Jordan aus Rastatt hat ihre Türe eines Tages selbst gefunden. Ich kenne sie seit einiger Zeit. Neulich hat sie noch einen meiner Vorträge in einem Laufladen besucht. Und ich habe eine gesunde und tolle Frau getroffen. Eine sehr gute Läuferin, die heute unter anderem Fitness- und Laufcoach ist. Nach der Kolumne letzte Woche, nach der Stille diese Woche, hat sie mir ihre Geschichte erzählt. Eine Geschichte, die Mut macht. Anja und ich haben uns dazu entschieden, sie zu erzählen. Für alle die, die einfach nur zuhören wollen.

Anja Jordan während ihrer Magersucht.
Anja Jordan während ihrer Magersucht.
© privat/Anja Jordan

„Ich war schon immer sportlich und bin seit meinem zehnten Lebensjahr im Leichtathletikverein“, sagt Anja. „Im Siebenkampf und im Hürdenlauf gehörte ich zur nationalen Spitze. Die Themen Gewicht und Essen begleiteten mich schon sehr früh, da ich versuchte alles zu optimieren. In meiner Trainingsgruppe waren hauptsächlich Mädchen. Wenn es zur Leistungsdiagnostik nach Freiburg an die Uni-Klinik ging, war das immer ein kleiner Wettstreit zwischen uns. Wer wiegt weniger und wer hat am wenigsten Körperfett. Die Spitzen von Seiten des Trainers oder auch vom Freund gingen an mir nie spurlos vorbei. Denn so 'zwei bis drei Kilo weniger würden mir schon gut tun', hieß es oft.

Vor wichtigen Wettkämpfen kochte ich mich ziemlich runter, durch kleine Portionen, ich verzichtete auf Süßigkeiten, ging oft in die Sauna und absolvierte auch nochmal die ein oder andere extra Trainingseinheit. Als die ersten Verletzungen kamen und deswegen der Siebenkampf für mich für immer gestorben war, fing ich an zu laufen. Ich lief immer öfter und dann auch immer länger. Irgendwann kam ich aber an den Punkt, an dem ich schneller werden wollte. Und da rückte das Thema Essen und Gewicht plötzlich wieder ziemlich in den Vordergrund. 'Denn umso weniger Du mitschleppst, desto schneller bist Du', sagte man zu mir. Neben der akribischen Trainingssteuerung auf Zehn-Kilometer-Läufe, Halbmarathon und auf das große Ziel, einen Marathon zu laufen, stellte ich mir auch einen Ernährungsplan zusammen. Ich googelte was das Zeug hielt, nach den besten Lebensmitteln für Läufer, Diätprodukten, nach Ernährungsstrategien.

Zunächst fühlte sich Anja Jordan so gut wie nie

Da ich immer noch gerne Krafttraining machte, veränderte sich mein Körper trotz der vielen Lauferei noch nicht so deutlich. Deshalb ließ ich das auch weg und konzentrierte mich auf Ausdauersport. Nach den vier Wochen hatte ich nur fünf Kilo runter und war das erste Mal seit langem unter sechzig Kilo. Ich fühlte mich so gut wie noch nie, konnte Bäume ausreißen, die Klamotten saßen perfekt. Eher leger, was ich sehr mochte. Ich fand es gut, dass mich die Leute ansprachen. Ihnen war aufgefallen, dass ich abgenommen hatte.

Ich war einfach stolz, da ich meinem Freund und auch anderen demonstrieren konnte: Da! Schaut her, ich habe es geschafft. Da ich nicht nur so gerade knapp unter der 60 Kilo Marke bleiben wollte, machte ich immer weiter. Einladungen, Feiern, Treffen mit Freunden oder gemeinsames Abendessen mit dem Freund wurden unangenehm. Ich wollte nicht mehr vor anderen essen und wollte auch genau wissen, was ich esse. Nicht dass ich zu viel Fett zu mir nehme. Ich meldete mich noch zusätzlich im Fitnessstudio an. Nach meiner Feierabendrunde ging ich ins Studio und machte drei Ausdauerkurse hintereinander mit. Meine Mittagspause verbrachte ich mindestens zwei bis drei Mal im Fitnessstudio.

Zurück gesprungen. Anja Jordan ist wieder gesund.
Zurück gesprungen. Anja Jordan ist wieder gesund.
© privat/Anja Jordan

Morgens lief ich acht Kilometer und am Abend nochmal mindestens zwölf Kilometer. Alternativ absolvierte ich noch ein Tempotraining auf der Bahn. Ich trainierte immer mehr, ich aß immer weniger. Gekotzt habe ich in der ganzen Zeit nie, das konnte ich nicht. Nicht, dass ich es nicht probiert hätte, mir den Finger in den Hals zu stecken oder die Zahnbürste. Aber ich konnte mich einfach nicht überwinden. Fressattacken gab es irgendwann trotzdem immer mal wieder. Ich habe mir dann angewöhnt, die Dinge, auf die ich besonders Appetit hatte, nur in den Mund zu nehmen, kurz zu schmecken, und dann wieder auszuspucken.

Meine Kräfte und meine Energie für das Laufen und für die Bewältigung meines Alltags hielten sich lange stabil. Bis ich unter die fünfzig Kilo Marke rutschte, bei einer Größe von 1,70 Meter. Dann plötzlich wurde ich immer schwächer, konnte kaum noch meinem Beruf nachgehen. Ich hatte große Probleme, mich zu konzentrieren und machte Fehler. Die Beziehung zu meinem Freund litt sehr darunter. Ich hatte schon seit Monaten meine Periode nicht mehr, die Hormone waren durcheinander und mein Körper hatte sich nicht nur verändert, sondern eher deformiert. Meine Leistungen im Laufen waren dennoch sehr gut, da kam mir mein geringes Gewicht sehr entgegen.

Mit vielen kleinen Schritten zurück ins Leben

Im Sommer dann war ich irgendwann auf unter 45 Kilo. Die Magersucht hielt mich zwei Jahre im Bann. Ich hatte eine Gesprächstherapie und doch noch ein paar richtige Leute um mich herum, die mich stützten. Ich aß irgendwann wieder normal, nahm wieder zu, und sportelte trotzdem im gleichen Pensum weiter. Es waren ganz kleine Schritte, die mich ins normale Leben zurückgeführt haben. 2012 habe ich mich kurz vor meinem 30.Geburtstag von meinem langjährigen Freund getrennt, der mit mir zwar durch alle Phasen ging, aber auch ein entscheidender Auslöser war, dass es überhaupt soweit kam. Seit der Trennung habe ich zu mir gefunden. Heute mache ich mir überhaupt keine Gedanken mehr über das Essen oder Laufen. Das Laufen gehört zu meinem Leben, genau wie das Essen.“

Ich bin mir sicher, dass das Thema Laufen und Essstörung auf einem sehr leisen Weg ist. Ich bin mir sicher, dass der Weg noch weit sein wird. Für viele. Als Läufer und als Mensch möchte ich all den Stillen nur sachte zurufen: Du bist in Ordnung. Es ist nichts falsch an Dir. Du bist wunderbar so wie Du bist. Und ich schenke Dir ein Zitat von Friedrich Nietzsche: „Die größten Ereignisse – das sind nicht die lautesten, sondern unsre stillsten Stunden.“ So läuft es.

Mike Kleiß leitet eine Kommunikations- und Markenagentur in Köln und schreibt hier an jedem Donnerstag übers Laufen.

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