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Tiefpflug. Vinnie Jones (l.) bekämpfte schon 1996 allzu unbritische Schönspielerei, hier konkret den Niederländer Ruud Gullit.
© Imago

Fußball in Großbritannien: Die Premier League fürchtet den Brexit

Gestern war es nur eine Befürchtung, heute Realität: Der Brexit. Er könnte Englands Premier League um ihre Profis bringen. Erschienen ist dieser Artikel erstmals gestern, aktuell ist er heute.

Vor rund 20 Jahren war der Fußball in England noch … Nun ja, Vinnie Jones würde ihn als ehrlich bezeichnen, weil auch noch eher grobmotorische Männer mit ausgeprägtem Hang zur Anwendung des ehrlichsten Handwerkszeugs im Fußball, der Grätsche, mitspielen durften. Männer wie Vinnie Jones. Der Waliser interpretierte sein Fußballspiel wiederum derart übertrieben ehrlich, dass von ihm nachhaltig seine vielen Platzverweise (13), die vermutlich schnellste Gelbe Karte aller Zeiten (nach drei Sekunden) sowie der berühmte Griff in die Weichteile von Paul Gascoigne in Erinnerung geblieben sind.

Nun saß ebenjener Vinnie Jones kürzlich im Studio des britischen Pay-TV-Senders Sky und sagte wehmütig, dass dem englischen Fußball die gute, alte Grätsche abhanden gekommen sei und dass das auch mit den vielen Spielern aus Europa zu tun habe, die den englischen Profifußball überschwemmt hätten. Nun sei der Fußball in der Premier League fantastisch anzuschauen, sagte Jones noch, aber ein bisschen Jones, ein bisschen Grätsche, würde fehlen. Vinnie Jones also fordert die Rückkehr zur Ehrlichkeit, und vielleicht ist der Weg dorthin gar nicht mehr weit – sollten die Briten am Donnerstag für den Brexit stimmen.

Wenger fürchtet das Ende des schönen Fußballs in England

Der Austritt Großbritanniens aus der EU würde den Fußball nicht unberührt lassen. „Sollte es zum Brexit kommen, würde der EU-Vertrag und damit auch die dort geregelte Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU für Großbritannien – Stand heute – nicht mehr greifen“, sagt der Sportrechtler Marius Breucker. „Ausländische Spieler müssten sich an die britischen Einreise-, Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisbestimmungen halten.“ Schon derzeit müssen Nicht-EU-Spieler aufgrund verbandsrechtlicher Vorgaben der FA bestimmte sportliche Kriterien erfüllen, etwa eine Mindestanzahl an Länderspielen absolviert haben, um in den englischen Profiligen spielberechtigt zu sein. Solche Kriterien könnten dann auch für Spieler aus der EU gelten.

Einer Studie des britischen „Guardian“ zufolge wären bei Anwendung dieser Kriterien auf Fußballprofis zwei Drittel der rund 160 Premiere-League-Spieler aus dem „EU-Ausland“ nicht spielberechtigt. Spieler wie die EM-Teilnehmer Dimitri Payet, Anthony Martial, David de Gea oder auch der deutsche Verteidiger Robert Huth, der in der vergangenen Saison mit Leicester City Englischer Meister wurde. Noch härter würde es die zweite Liga treffen, die Championship, in der laut BBC von 180 EU-Ausländern nur knapp über 20 die Kriterien erfüllten.

Nun sind nicht alle in England der Meinung, dass dem britischen Fußball eine Rückkehr zum Grobmotorischen guttun würde. Doch genau das, so die Befürchtung vieler, könnte die Folge des Wegfalls der Arbeitnehmerfreizügigkeit sein. Etliche Klubchefs sehen eine Katastrophe auf den englischen Fußball zukommen. Arsène Wenger, Trainer vom FC Arsenal und bekennender Brexit-Gegner, befürchtet, dass bei einem Austritt Großbritanniens aus der EU die besten Spieler die Premier League verlassen würden. „Das schöne Spiel in diesem Land wäre dann beendet“, sagt der Franzose.

Liga und Verband streiten emotional

Doch es gibt auch Stimmen, die in einem möglichen Brexit eine Chance für den englischen Fußball sehen. Ihr Hauptargument: Ein Rückgang an Ausländern wäre verbunden mit einem Zuwachs an einheimischen Spielern. Englands Nationalmannschaft, die seit 1966 auf einen Titel wartet, könnte davon profitieren. Und das nicht nur, weil weniger Stars aus dem EU-Ausland im britischen Profifußball spielen würden. Auch könnten die Briten nach der derzeitigen Gesetzeslage keine minderjährigen Talente mehr von der anderen Seite des Ärmelkanals transferieren. Das EU-Recht, das den Wechsel von Teenagern innerhalb des europäischen Wirtschaftsraums erlaubt, wäre nicht mehr gültig. Die Engländer wären gezwungen, auf eigene Talente zu setzen.

In der sehr emotional geführten Diskussion über Für und Wider eines möglichen Brexit prallen der englische Fußballverband FA, der die nationalen Interessen wie eben eine starke Nationalmannschaft vertritt, und die Premier League aufeinander, die um ihre Attraktivität fürchtet.

Tatsächlich aber sind die Argumentationslinien in beide Richtungen mit dem Konjunktiv behaftet. Kein Mensch kann derzeit sagen, was genau der Austritt Großbritanniens aus der EU in Teilbereichen wie dem Fußball bedeuten würde. „Die Folgen eines Brexit würden vermutlich in einer Vereinbarung zwischen EU und Großbritannien geregelt. Insofern ist es derzeit noch Spekulation, ob und gegebenenfalls welche EU-Regelungen auch künftig – teilweise – gelten könnten“, sagt der Sportrechtler Breucker. „Es ist zu erwarten, dass Großbritannien trotz eines Austritts weiterhin bestimmte Regeln des freien europäischen Binnenmarkts anwenden wird, um von den damit verbundenen Vorteilen zu profitieren.“

Die Diskussion ist aber vor allem deshalb mit dem Konjunktiv behaftet, weil die Briten erst an diesem Donnerstag entscheiden, ob sie sich aus der EU verabschieden wollen oder nicht. Sollten sie sich für einen Austritt entscheiden, dann müsste immer noch verhandelt werden, ob der englische Fußball wieder englischer, wieder ein bisschen mehr Vinnie Jones werden soll.

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