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Sport: Die Nackten von der Märchenwiese

Radpartie 4 ins Land der Sommerfrische am Motzener See. Das entdeckten Pioniere der Freikörperkultur um 1920. Sie kamen mit der Bimmelbahn aus Berlin und besaßen Europas einziges FKK-Gelände mit Gleisanschluss

Im Dorf hießen sie „die Nackten“. Sie kamen mit der Dampfbahn aus Berlin, nannten sich „Windsbräute“, „Freie Menschen“ oder „Lichtkämpfer“, diskutierten in Zelten über die proletarische Sexualreform und hatten mit dem Lokführer einen kleinen Liebesdienst abgemacht: Jedes Mal, wenn ihre Märchenwiese am Nordzipfel des Motzener Sees in Sicht kam, hielt er den fauchenden, bimmelnden Zug kurz an. Dann sprangen die jungen Leute ab ins Land der Sommerfrische.

Sie entledigten sich ihrer Kleider, rannten wie Adam und Eva über den Sand ins glasklare Wasser – und brachten mit ihrem Elan die Freikörperbewegung in den frühen 20er Jahren in Schwung.

Denn am Motzener See im wald- und wasserreichen Süden von Berlin „steht die nasse Wiege der deutschen FKK-Kultur“, wie es in den Chroniken der Naturisten heißt. Tatsächlich entdeckten sie hier ihre ersten Paradiese auf den gepachteten Wiesen bei Motzen und am anderen Ufer – auf einer Sanddüne bei Kallinchen. Doch kaum hatten sie dort ein „einfaches, natürliches Freizeitleben ohne Nikotin und Alkohol, aber mit geistiger Lebensgestaltung“ begonnen, da sprach sich ihr gelobtes Land auch unter Berlins textilbedeckten Sommerfrischlern herum: Die stiegen nun in Scharen in Rixdorf in die Dampfbahn und rollten über Mittenwalde in die „saftige, ländliche Welt“ rund um den Motzener See, wie eine zeitgenössische Illustrierte schrieb.

Diese Welt hat sich bis heute bewahrt wie die Kolonien der FKKler. Es gibt zwar keine Bimmelbahn mehr am Nordufer des Sees mit fünf Bahnhöfen, an denen die Lok alle paar Minuten hielt, damit die Berliner mit Kind und Kegel aussteigen konnten. Heute fährt man per Auto oder Rad nach Motzen und Kallinchen, spaziert dann aber wie eh und je zu Café-Terrassen und Stränden und beobachtet dort den Zug, der übers Wasser kommt: Die Segler und Ruderer, Kanuten und Paddler aus Grünau oder Köpenick.

Auch sie lockt der See, weil er klar ist und über dem Wasser eine ungewohnte Ruhe liegt. Niemand wird hier von Flitzern bedrängt, Motorboote sind verboten. Ein wenig ist die Zeit stehen geblieben, zumindest erscheint es so, wenn in Kallinchen am Steg des Fischers der Räucherofen qualmt oder Radler ihr Picknick im Motzener Seebad auspacken. Holt man allerdings Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg aus dem Rucksack und liest, was er vor 120 Jahren über die Motzener Gegend schrieb, so entsteht ein Bild aus einer anderen Welt.

„Der Himmel verfärbte sich ganz rot“, erzählt der Dichter, „denn wenn Sie nachts bis an den Motzener See fahren, da glüht es und qualmt es rechts und links, als brennten die Dörfer.“ Die Tonvorkommen des Landstrichs zogen im 19. Jahrhundert Fabrikanten an. Ziegeleien wurden gegründet und lieferten Millionen Ziegel und Steine nach Berlin. Anfangs auf Kähnen über den Galluner- und Nottekanal, Dahme und Spree, ab 1894 zunehmend mit den schnelleren Dampfzügen.

Damals eröffnete die erste Kleinbahngesellschaft der Region ihre Strecke von Königs Wusterhausen über Mittenwalde und Motzen nach Töpchin. Sechs Jahre später dampfte gar der erste Zug ab Berlin-Hermannstraße über Britz und Schönefeld nach Mittenwalde. Das Geschäft mit den Ziegeln sollte die Bahnunternehmen bereichern, aber sie hatten sich verspekuliert. Nach dem Ersten Weltkrieg war der Bauboom in Berlin endgültig vorbei, Ziegeleien gingen Pleite. Die Bahngesellschaften suchten dringend neue Kundschaft.

Die Rettung brachten der Müll – und die Sommerfrischler. Denn Abfälle aus Berlin ließen sich gut in den leeren Tongruben lagern; und just um die Zeit, als die Züge in die rote Zahlen rollten, zogen sich in Motzen die ersten FKKler aus. Also förderte man bei der Bahn beide aussichtsreichen Geschäftsfelder, verlegte aber zuallererst Schienen von Mittenwalde zu den Gruben bei Schöneiche und Schöneicher Plan. Es begann ein Müll-Shuttle, der bis heute auf Gleisen und Straßen in Gang ist und seinen Höhepunkt zu DDR-Zeiten erreichte, als täglich rund hundert BSR-Laster Müll aus West-Berlin zu den Deponien brachten. Doch inzwischen sind die Abfallkarawanen kürzer geworden, und ab 2005 will die Stadtreinigung noch weitaus weniger als heute abkippen.

Von alledem bekamen die Sommerfrischler am See schon damals nichts mit. Die Grube war abgedeckt und aus dem Blick – das Idyll ungetrübt. Deshalb warb die Motzenersee-Bahn Anfang der 30er Jahre guten Gewissens für den Schienenweg ins Grüne: „Fahrt mit unserer Eisenbahn, seht euch eure Heimat an!“ Und die Berliner sangen im Zug: „Eine Kleinbahn bringt dich langsam aber sicher an das Ziel, deine Nerven werden stärker schon bei ihrem Räderspiel.“

Für die Nackten von der Märchenwiese baute man um diese Zeit sogar eine eigene kleine Bahnstation, nun besaßen sie Europas einziges FKK-Gelände mit Gleisanschluss. Gewinnstreben siegte über die Bedenken der Sittenwächter, schließlich brachten die Naturisten viel Geld in die Dörfer. Sie kamen aus der Wandervogel-Bewegung und aus Sportlerbünden „ohne Geschlechtertrennung“; sie agitierten in Motzen mit Berlins Sexualpädagogen Dr. Magnus Hirschfeld gegen den §218 und bauten ihre Kolonien mächtig aus.

Erst die braunen Machthaber brachten sie in Bedrängnis. Schon 1932 gab es Razzien, aber die Nackten sahen sich vor wie die Murmeltiere, die pfeifen, wenn ein Adler kreist: Kaum erscholl der Warnruf „Wasser kocht“ – schlüpften alle in Badekleidung. Textilfreiheit sei dem Volksempfinden zuwider, hieß es. Doch einflussreiche FKKler überzeugten Hitler, Nudismus sei Ausdruck germanischer Selbstzucht. Also ging das Leben auf der Märchenwiese unter dem Dach des Kampfbundes für völkische Freikörperkultur weiter.

Aber die Sache der Nackten passte in keine Ideologie. Auch in der frühen DDR durften diletzten Hüllen nicht fallen. Das galt als unvereinbar mit sozialistischen Idealen. Doch die FKKler setzten sich durch und überstanden auch diese Zeit – bis heute. Nur ihr Gleisanschluss ging verloren, 1952 fuhr der letzte Zug von Berlin nach Mittenwalde und 1968 die letzte Motzenersee-Bahn.

Die Schienen zwischen Töpchin und Mittenwalde blieben erhalten und dienen heute einem Freizeitspaß: Draisinen verkehren auf der Strecke, in denen Familien wie im Tretolin strampeln. Kurz vor dem Motzener Golfplatz überqueren sie die Straße: Eine ungewöhnliche Begegnung für alle, die per Pedale unterwegs sind – auf zwei und vier Rädern.

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