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Jubel in Grün. Ray Houghton und sein Mitspieler Ronnie Whelan feiern das 1:0 gegen England.
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EM 1988 in Deutschland: Die Geburt des keltischen Tigers

Niemand traute Irland bei der EM 1988 etwas zu – doch dann kam alles anders. Ray Houghton über elf magische Tage in Deutschland.

Prolog

Eine Fußballnation waren wir Iren nicht. Die Europameisterschaft 1988 in Deutschland bedeutete die erste Turnierteilnahme Irlands, dennoch hielt sich das Interesse in Grenzen. Die Iren begeisterten sich für Rugby und Hurling. Wer Fußball schaute, galt vor jenem Sommer als Freak. In der Qualifikation hatte uns nur ein Sieg der Schotten gegen Bulgarien auf Platz eins gehievt. Typisch irisch: Geschichte geschrieben, aber nicht aus eigener Kraft. So wurde uns auch in Deutschland nichts zugetraut. Wir waren dabei, weil eine Gruppe den Regeln zufolge aus vier Teams bestehen musste. Irland war Füllmasse. Kanonenfutter für die Favoriten. Offenbar war dem Festland die Kaderpolitik von Trainer Jack Charlton verborgen geblieben. Mit Jack kam 1986 die Revolution, er ließ Stammbäume erstellen, um sich die Granny Rule der Fifa zunutze zu machen: Demnach war es in Großbritannien geborenen Spielern erlaubt, für Irland aufzulaufen, wenn sie nachweislich über irische Wurzeln verfügten. Journalisten, die sein Team als Plastic Paddies schmähten, bellte er ins Gesicht: „Wenn ich mich mit den Besten der Welt messen soll, brauche ich auch die Besten der Welt. Und wenn ich die in Irland nicht finde, finde ich sie in Schottland und England. Ihr wollt doch auch Erfolge, fuck off!“ Nur wenige aus unserem Kader waren in Irland geboren, doch Iren waren wir alle.

8. Juni 1988

Wir mieteten das Waldhotel Stuttgart-Degerloch. Die Türme, Säle und Korridore verströmten den barocken Protz eines Schlosses. Wie Kinder erkundeten wir die großen Gärten. Im Training setzte Charlton auf Entspannung. Dass wir lachend eine ruhige Kugel schoben, war Wasser auf die Mühlen der Medien. Die Buchmacher führten uns als 50:1-Außenseiter.

10. Juni 1988

In einem TV-Interview platzte Charlton schließlich der Kragen. An jeder Ecke malten die Reporter Untergangsszenarien. Wie viele Gegentore? Bleibt Ihr Team einstellig? Er wolle den Titel, posaunte Charlton in die Kamera. Ab da wurde der Tanz mit der Presse zum Running Gag. Mal erklärte der Coach, fünf Stürmer aufzubieten, dann schwadronierte er über Achterketten. Unter breitem Grinsen machten seine Auftritte auf dem Hotelflur die Runde: „Hast du schon gehört, was der Boss vorhin rausgehauen hat?“

11. Juni 1988

Am Tag vor dem ersten Spiel spazierten wir durch Stuttgart. Die Leute staunten nicht schlecht. 22 Iren in der Fußgängerzone, Trainingshosen, breite Schultern, derber Humor, in der Hand eine kleine Tasse mit heißem Kaffee. Bei diesem Ausflug gab Jack auch die Aufstellung bekannt: „Männer, wir haben morgen ein Fußballspiel.“ Irlands erster Auftritt bei einem Turnier und dann gleich gegen England! Die Londoner Presse verlachte uns als englische B-Elf, beaufsichtigt von einem Trainer, der englischen Ansprüchen nicht genügte. 1977 war Jack mal Kandidat für Englands Nationalteam gewesen, aber von der FA abgelehnt worden.

12. Juni 1988: England – Irland 0:1

Das Lampenfieber kam über Nacht. Ich fand kaum Schlaf, der verdammte Kaffee! Es war ein heißer Tag in Stuttgart, um die 30 Grad, keine Wolken. Am Neckarstadion verbreiteten die irischen Fans eine Stimmung wie auf dem Rummel. Das beruhigte ein bisschen. Einen normalen Puls hatten wir spätestens nach dem Plausch mit unseren englischen Kollegen: Die waren noch nervöser als wir! Die Deutschen hielten, angesteckt vom Charme des Underdogs, zu uns. Ohne Kenntnis der Texte grölten sie die irischen Gesänge nach: In der sechsten Minute flankte Tony Galvin vom linken Flügel an den Elfmeterpunkt. Englands Kenny Sansom köpfte eine Bogenlampe, die Aldridge auf mich ablegte.

Als mein Kopfball im Netz lag, gab es eine Sekunde unwirklicher Ruhe. Dann explodierte die Kurve, es war mein erster Treffer für Irland. Das Fernsehen zeigte Jack, wie er sich an den Kopf fasste, dazu brüllte der Kommentator: „Unglaublich, auch Charlton kann es nicht fassen!“ In Wahrheit war der Chef beim Jubel ans Dach der Bank gedonnert. In den verbleibenden 84 Minuten berannte England wütend unser Tor. Vor allem die zweite Halbzeit kam mir vor wie eine Ewigkeit. Irgendwann war dann Schluss, ich schleppte mich erschöpft in die englische Kabine, um John Barnes, meinen Kollegen vom FC Liverpool, zu trösten. Tony Adams fluchte quer durch den Raum, Lineker lehnte mit geschlossenen Augen an der Wand. Wir fuhren im Bus zum Hotel, wo eine beispiellose Party startete. Noch heute werde ich auf das Tor angesprochen: Ehen wurden deshalb geschlossen, Kinder gezeugt und Fernseher zertrümmert.

13. Juni 1988

Für die zweite Partie reisten wir nach Hannover. Im Flugzeug bekam ich eine Ahnung davon, was der Sieg daheim ausgelöst hatte. Die Zeitungen berichteten über Irland im Ausnahmezustand. An den Flughäfen kollabierte der Verkehr, weil plötzlich alle nach Deutschland wollten. Für ein Ticket nahmen die Leute Kredite auf. Ein nie dagewesenes Interesse am Fußball war erwacht.

15. Juni 1988: Irland – UdSSR 1:1

Gegen die UdSSR trauten viele Zuschauer ihren Augen nicht. War das wirklich Irland, der Neuling? Wir spielten den Mitfavoriten an die Wand. Der Auftritt belehrte Kritiker, die uns nur Kick-and-rush zugetraut hatten, eines Besseren. Ein traumhafter Volleyschuss von Ronnie Whelan besorgte die Führung. Leider versäumten wir es, ein zweites Tor zu schießen. Als Oleg Protasow kurz vor dem Ende ausglich, fühlten wir uns um den Sieg betrogen: Der Schiedsrichter hatte zwei klare Elfmeter nicht gepfiffen. Statt der Qualifikation fürs Halbfinale wartete nun ein Endspiel ums Weiterkommen gegen Holland.

16. Juni 1988

Der irischen Party tat das Remis keinen Abbruch, wir waren nach wie vor Gruppenerster. Alle Zweifel an unserer EM-Tauglichkeit waren spätestens jetzt ausgeräumt. Charlton war der Vater des Erfolges. Er behandelte uns nicht wie Söhne, sondern wie Männer. Der Chef war eine Respektsperson, aber er konnte auch mit uns bis in die Nacht Karten kloppen. Wir hätten alles für ihn getan. „Jacks Armee“ nannte uns die Presse und lag damit nicht falsch. Es gab keine Cliquen im Kader, keinen Neid. 20 Brüder hielten zusammen. Die Mischung war einfach ideal.

17. Juni 1988

Die Holländer waren schwach gestartet, hatten sich aber gegen England gesteigert. Wegen der Nähe zur Grenze würde Gelsenkirchen für sie zum Heimspiel werden. Jack reagierte auf seine Art – also fast gar nicht. Er mochte keine Rotation, vertraute seiner Stammelf. Gegen Ausnahmekönner wie Gullit, van Basten und Rijkaard würden wir nicht viel vom Ball sehen. Es galt, die Zauberer zu entnerven. Mentale Stärke gegen technische Stärke.

18. Juni: Irland – Niederlande 0:1

Was wäre gewesen, wenn an jenem Samstag die Gesetze der Physik funktioniert hätten? In guten Träumen stemme ich den Pokal, in meinen Albträumen köpft Wim Kieft aufs Tor. 82 Minuten verteidigten wir fantastisch. In seiner Verzweiflung schoss Ronald Koeman – und der eingewechselte Kieft hielt den Kopf hin. Die Flugbahn spottete jeder Logik. Wir drehten uns ab, weil das Ding offensichtlich um gute zwei Meter am langen Pfosten vorbeisegelte. Aber auf halbem Weg wechselte der Ball die Richtung und drehte sich ins Netz. Es ist ein Treppenwitz, dass die Niederländer, die mit dem schönsten Treffer des Turniers Europameister wurden, das absurdeste aller Tore benötigten, um die Gruppe zu überleben. Wir waren raus.

19. Juni 1988

Die nackten Zahlen standen im krassen Kontrast zum gefühlten Ergebnis. Die Heimkehr offenbarte das ganz besonders. In Irland empfing uns der Premierminister. 250 000 Fans säumten die Straßen, als uns der Bus durch Dublin fuhr. Wir hatten dem Fußball in Irland zu neuer Größe verholfen, und der Fußball hat Irland zu ganz neuer Größe verholfen. Viele Iren verknüpfen den Wirtschaftsboom der frühen Neunziger mit den elf Tagen in Deutschland. Ohne Europameisterschaft kein steigendes Bruttoinlandsprodukt und keine sinkende Staatsverschuldung, sagen sie: „Der Keltische Tiger wurde im Sommer 1988 geboren.“ Ich glaube, sie haben recht. Deutschland war ein Wagnis, ein Abenteuer. In seiner Dankesrede in Dublin fragte Jack Charlton: „Was wäre in Irland bloß los, wenn wir was gewonnen hätten?“ Für eine Antwort reicht meine Fantasie nicht aus.

Aufgezeichnet von Moritz Herrmann.

Ray Houghton

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